■ Die FDP will die programmatische Avantgarde sein. Aber zu bieten hat die Partei nur altes liberales Gedankengut
: Der falsche Nachtwächter

Die FDP wird zur Zeit von einem Strohfeuer erhitzt. Junge Leute tragen Altbekanntes so feurig vor, als sei es das Allerneueste. Die Ideen von Reagonomics und Thatcherismus, die auch schon aufgewärmter kalter Kaffee waren – nämlich der bereits im vorigen Jahrhundert gescheiterte Manchesterliberalismus –, werden wieder aufgetischt, und man hat Erfolg mit einer heißen Metapher: „Steuerland ist abgebrannt“.

Diese Diagnose indiziert zwar bei schlichter Betrachtung Steuererhöhungen; so schlicht denkt aber heute niemand mehr. Die Krise des Sozialstaats – an diese seltsame Schleife hat man sich gewöhnt – muß durch Steuersenkungen behoben werden. Das ist schon für die Einkommenssteuer nicht plausibel, weil die Unternehmer die ersparten Gelder nicht in arbeitsträchtigen, sondern in rationalisierenden Investitionen anlegen werden. Es ist aber noch weniger plausibel für die Erbschafts- und Vermögenssteuer.

Dennoch ist es gelungen, die Herabsetzung dieser Abgaben als Vorleistung im Bündnis für Arbeit erscheinen zu lassen. „Ihr kriegt weniger Lohn, dafür zahlen wir weniger Steuern“ – dieses Geschäft hat eingeleuchtet. Kein Wunder, daß Steuerland abgebrannt ist. Riesige Geldmengen befinden sich in privater Hand, wo sie zu einem wachsenden Teil nicht mehr unternehmerisch investiert werden, sondern ihr Glück in der Spekulation mit den Währungsgefällen des europäischen Kapitalmarktes suchen. Dem soll durch den Euro abgeholfen werden, der dieses Gefälle ausgleicht. Das aber will die FDP verhindern.

Diese Politik ist mit der Forderung, Leistung solle wieder belohnt werden, schwer vereinbar. Es ist vielmehr der Reichtum, der belohnt werden soll. Und was hat es mit der Forderung nach mehr Eigenverantwortung auf sich? Mit diesem Schlagwort wird die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Allgemeinwohl gerechtfertigt. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, niemand für das Ganze.

Das ist altes liberales Gedankengut, dem die Vorstellung zugrunde liegt, daß sich das Wohlergehen des Ganzen von selbst ergibt, wenn nur der Staat das freie Spiel der Kräfte zuläßt, das trotz der unmittelbar verfolgten egoistischen Einzelziele eine prosperierende Gesamtgesellschaft schafft. Und dieses Konzept ist in seinem Kern auch richtig; es hat seine Überlegenheit gegenüber dem sozialistischen, in dem die Eigenverantwortung tatsächlich erschlafft ist, historisch bewiesen. Aber es hat auch hinlänglich bewiesen, daß es scheitert, wenn es nicht durch einschneidende staatliche Maßnahmen korrigiert wird. Es ist zunächst im Manchesterliberalismus gescheitert, der in der frühkapitalistischen Phase die Massen verelenden ließ (bis die Bismarcksche Sozialgesetzgebung zu Hilfe kam), und zuletzt in der Pauperisierung der englischen Unterschicht, die durch Margaret Thatchers Sozialpolitik des Nötigsten beraubt und keineswegs in ihren Eigenkräften mobilisiert wurde.

Der Liberalismus, dessen Grundidee die wohltuende Wirkung der „unsichtbaren Hand“ ist, die alles von selbst reguliert, richtete sich in seinem Ursprung gegen den Absolutismus, als es galt, eine überaktive Staatsgewalt zurückzudrängen. Er hat in den letzten zweihundert Jahren lernen müssen, daß er ohne staatliche Steuerung nicht auskommt. Solche Steuerung liegt nicht vor, wenn wahllos und gleichgültig Sozialleistungen ausgeschüttet werden – dadurch wird die Selbstverantwortung ihrer Empfänger tatsächlich geschwächt –, sondern dann, wenn gezielte Sozialpolitik betrieben wird. Denn auch darin hat der Liberalismus recht: Die Erlangung eines arbeitslosen Einkommens wirkt sich auf Arbeitsfähige demoralisierend aus.

Das bedeutet aber: Wenn die Wirtschaft nicht die nötigen Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, muß der Staat in ausreichendem Umfang für die Organisation nichtprofitbringender sozialer und ökologischer Arbeitsplätze sorgen. Denn das tut kein einzelegoistisches Streben. Auch die von der Basis kommenden zivilgesellschaftlichen Potenzen werden überschätzt, wenn man von ihnen die Initiative erwartet (wie Ulrich Beck es im Spiegel 20/1996 tat). Hier ist der Staat als Initiator nötig, auch wenn solche Projekte unter Geltung des Subsidiaritätsprinzips von den heterogenen „freien Trägern“ durchgeführt werden sollen.

Schon lange haben sich im Liberalismus Kräfte entwickelt, die – bei Anerkennung der freien Marktwirtschaft – einen starken, sozialpolitisch aktiven Staat fordern. Diese Kräfte haben am Ende der Weimarer Republik die von Hitler dann aufgegriffene und nach seinen Zwecken umgeformte Arbeitsbeschaffung organisiert. Sie haben dann unter Ludwig Erhard die „soziale Marktwirtschaft“ geschaffen (Nikolaus Piper hat in der Zeit vom 23. 5. 1996 daran erinnert), die das Ziel einer befriedigenden Vitalsituation für alle hatte. Davon will man jetzt in der FDP nichts mehr wissen.

Der Staat soll sich kleinmachen und seine Funktionen reduzieren. „Nachtwächterstaat“ nannte Lassalle dieses Ideal des Liberalismus. Der Sozialfonds soll gesundschrumpfen, und Möllemann schlägt zu diesem Zweck vor, daß es keinen Zahnersatz mehr auf Kosten der Krankenkasse geben soll. Die Armen sollen wieder an ihren Zahnlücken erkennbar sein. Die dagegen bestehenden Einwände wehrte Möllemann ab, indem er den Armen regelmäßige Zahnpflege empfahl. Wie man ihn kennt, muß man annehmen, daß er mit einem Zahnpastafabrikanten verschwägert ist – jedenfalls ist nicht zu sehen, daß es ihm um das Allgemeinwohl geht.

Meinetwegen soll die FDP ihren Nachtwächterstaat haben – wäre er nur ein rechter Nachtwächter, ein solcher also, der nicht einschläft, sondern das Auge unermüdlich schweifen läßt. Dann würde er jetzt ins Horn blasen – weil es brennt. Nicht Steuerland und auch nicht das Strohfeuer der FDP – was brennt, ist die soziale Not. Es ist die materielle, die geistige, seelische und körperliche Not der Arbeitslosen, der man sich jetzt zuwenden muß.

Und sei im Steuerland zur Zeit auch nichts mehr zu holen – die wohlhabenden Schichten haben genügend Reserven angehäuft, die abgeschöpft werden müssen, damit materiell geholfen werden kann. Insbesondere aber müssen die moralischen Reserven angegriffen werden, damit die wachsende soziale Not gewendet wird. Vergessen wir nicht: Nicht ein zu stark gewordener Staat war die Ursache von Faschismus und Krieg, sondern die Arbeitslosigkeit. Sibylle Tönnies