Islamisten an die Macht

■ Yilmaz' Rücktritt beendet die korrupte Koalition

Keine drei Monate hielt die unrühmliche, rechtsbürgerliche Koalition, die angetreten war, um die stärkste politische Partei, die islamistische Wohlfahrtspartei, von der Macht fernzuhalten. Die Koalitionspartner waren vor allem damit beschäftigt, sich gegenseitig zu zerfleischen. Doch in der Türkei ist mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz nicht nur eine Regierungskrise ausgebrochen. Das politische Regime, die moderne, laizistische bürgerliche Republik, die über siebzig Jahre intakt blieb, steht mitsamt ihren Institutionen kurz vor dem Zusammenbruch.

Der Fisch begann am Kopf zu stinken. Der tiefe moralische Verfall offenbarte sich in den Korruptionsaffären der herrschenden politischen Kaste. Da fahren auf Anweisung der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller die Geldtransporter direkt zur Zentralbank, um die Kassen für den Geheimfonds zu leeren. Selbst kleine Ganoven dürfen sich daran bereichern. In Anwesenheit von Journalisten flucht ein betrunkener Minister im Restaurant auf Abgeordnete der eigenen Partei, listet detailliert ihre Korruptionsgeschäfte auf – und hofft so, die oppositionellen Abgeordneten dazu zu bewegen, über die Korruptionsaffären der Parteispitze Stillschweigen zu wahren.

Während sich die politische Kaste bereichert, wüten im Lande die staatlichen Repressionsinstrumente. Wozu ernennt man denn den Polizeichef zum Justizminister? Die Panzer überrollen Kurdistan, die Todesschwadronen morden, die Knüppel der Polizei bringen Gewerkschafter zum Schweigen, und die Staatssicherheitsgerichte befördern die kritische Intelligenz ins Gefängnis.

Allein die islamistische Wohlfahrtspartei unter dem Vorsitz von Necmettin Erbakan verheißt den Bürgern den moralischen Aufbruch. Die Wohlfahrtspartei hat eben den Charme als systemoppositionelle Kraft. Keine Intrigen und keine Militärpanzer werden verhindern können, daß die Islamisten an der Macht teilhaben werden.

Ein Einschnitt ins politische System, doch keine Revolution, könnte folgen. Denn auch die Wohlfahrtspartei ist eine Systempartei. Sie will islamistisch modifiziert den repressiven Nationalstaat fortführen. Die Emanzipation der Bürger bleibt in jedem Falle auf der Strecke. Ömer Erzeren, Istanbul