Wie ein Elefant auf dem Baum

■ Kränkungen und die Strategien eines Legasthenikers / Ein Interview mit dem Viertel-Ortsamtsleiter Robert Bücking

Einem Dummkopf kann es auch einfach so passieren, einem Legastheniker aber, weil ihm der Buchstabe „s“ auf der Nase herumtanzt: Einmal hat Robert Bücking, grüner Ortamtsleiter des „Viertels“, im Reisebüro statt La Palma Las Palmas gebucht. Das Verhängnis konnte erst im letzten Moment abgewendet werden.

In der Waldorf-Schule, die Robert fünf Jahre lang besuchte, quälten die Lehrer den Schüler, dem die Buchstaben vor den Augen herumtanzten, mit Diktaten und Aufsätzen. Es gab für solche Fälle keine eigenen waldorfpädagogischen Ideen. Die Pädagogen Anfang der 60er, auch an der Staatsschule, waren sich unsicher, ob Legastheniker auf die Hilfsschule gehören oder überhaupt ganz ungeeignet sind für das Schulsystem.

Nur zu Hause, da hatte er Glück. Da sagte seine Mutter: „Wir sind doch nicht blöd, wir lassen uns nicht unterkriegen! Es ist eben so, als würde man einem Elefanten sagen, er müßte auf einen Baum klettern - und das ist Quatsch. Das können nur Affen. Bestehe bei den Lehrern darauf, daß sie dir eine ordentliche Zensur geben – für den Inhalt, nicht die Rechtschreibung.“ Mutter Bücking wußte, wovon sie sprach: Legasthenie lag bei den Bückings in der Familie, seit Generationen. Auch sie, eine Lehrerin, schlug sich mit diesem „Minimal Brain Defect“ herum. Kein Zusatzstress aus dem Elternhaus – das ist für einen Legastheniker eher die Ausnahme.

Trotzdem war die Schulzeit hart. In einem zentralen Bereich unserer Kultur – dem Schreiben und Lesen – zu versagen, bedeutet andauernde Kränkung und Scham. Der klassische Ausweg der Legastheniker: Man kompensiert seine Schwäche.

taz: Die Leserechtschreibschwäche kompensieren – wie hast Du das gemacht.

Robert Bücking: Na, du fängst an zu raten und zu phantasieren, abzulenken, Schummelstrategien zu entwickeln, weil du das Gefühl hast, es geht gar nicht anders. Sonst ist es gar nicht zu schaffen. Wenn du Glück hast, entwickelst du irgendwelche Begabungen, die im Fächerkanon untergebracht werden können. Wenn du Pech hast, dann lenkst du alle Phantasie und Aufmerksamkeit darauf, das alles für bekloppt zu erklären, und ziehst dich zurück.

Bei mir war es dann so: Ich habe irgendwann angefangen, mir politische Gedanken zu machen. Nur waren die erbarmungslos verknüpft mit Lesen und Schreiben. Insofern war es unvermeidlich, daß sich das Problem für mich löst – irgendwie. Das hat dann auch geklappt. Ich habe Texte produziert, dann habe ich mir Freunde organisiert, die es halt konnten, die haben das in Ordnung gebracht. Aber sich nachts beim Parolenschreiben erwischen lassen, das war im Grunde immer noch die Situation wie nach dem Diktat. Ich hatte da so 'ne Phantasie: Daß mich einer zwingt, das Wort Bourgeoisie zu schreiben.

Wie beim „Leben des Brian“.

Genau, da kann ich mich richtig reinversetzen. Da hätte ich keine Chance gehabt. Oder „Patriotische Front“ oder so ein Quark.

Letztendlich hat sich diese Gleichung Text/Schreiben = Frustration/Beschämung irgendwann gelöst, weil es eben einen Überschuß an Engagement gab. Es ging um wichtige Aussagen, und da war der Text eine Möglichkeit. Ich will nicht behaupten, daß das dazu geführt hätte, daß ich jetzt sicher wäre. Nur ich habe das Gefühl, die Strategien, die sich eingeschliffen haben, begleiten einen viel länger, als nur diese Unsicherheiten im Schreiben.

Die Strategie „Raten“ zum Beispiel.

Genau. Raten ist ja: Schlüsse ziehen aus drei Anhaltspunkten. Diese spekulativen Fähigkeiten sind ja nicht nur unproduktiv, nicht nur zum Scheitern verurteilt. Die haben ja durchaus eine gewisse Berechtigung. Wenn man ein komplexeres gesellschaftliches Thema hat, dann geht es allen so. Alle arbeiten damit, daß sie Vermutungen anstellen aufgrund von ein paar Anhaltspunkten und Plausibilitäten. Das hat man als Legastheniker schon geübt. Das ist nicht geeignet bei der Exegese juristischer Texte oder für die Analyse des öffentlichen Haushalts, aber wenn man sich zum Beispiel Gedanken über Stadtentwicklung macht, dann ist das eine ganz fruchtbare Fähigkeit.

Kannst Du beschreiben, wie Du schreibst und liest.

Legastheniker haben ein unterentwickeltes Worterkennungssystem. Sie sind nicht in der Lage, ein größeres Ensemble von Zeichen als ganzes Bild zu identifizieren. Sie lesen Stück für Stück, und das erfordert ganz klar eine höhere Anstrengung. Wenn ich einen Text lese, ermüde ich schneller als andere Leute. Du mußt verschiedene Operationen im Schädel machen, die andere nicht machen. Im Umkehrschluß ist es aber so: Wenn ich einen Text gelesen habe, dann steht er mir auch sehr zur Verfügung. Anders als bei anderen Leuten.

Eine andere auffällige Geschichte ist, daß Legastheniker sehr aus dem Verbalen leben...

...das wollte ich gerade fragen: Hast Du möglicherweise so gelernt, Reden zu halten?

Kann schon sein. Du bist eben jemand, der statt ein kompliziertes Buch zu lesen eher die Geselligkeit von Leuten sucht, die das schon gelesen haben. Und an den wichtigsten Gedanken bastelst du dann eben weiter rum. So ist die Strategie. Ich meine, ich lese schon Bücher, sie bedeuten mir mittelerweile sehr viel.

Es stehen hier ja durchaus welche rum. Und das Schreiben?

Da ist es ganz ähnlich. Natürlich gibt es Unterschiede. Wichtigere Texte mache ich an meinem PC, und dann lasse ich sie von einer meiner Mitarbeiterinnen bearbeiten. Das ist problemlos mit meinem Job zu verbinden. Im übrigen glaube ich, daß es in der Verwaltung reichlich Leute gibt, die ohne ihre Schreibkräfte verloren wären. Aber es ist kein Drama. Ich kann also allen Mut zusprechen.

Nochmal zurück: Wie bist Du mit der Kränkung umgegangen?

Ich glaube, diese Kränkung war eine der Energien, die in diese politische Rebellion eingeflossen sind. Daß ich nicht mehr das Opfer von diesen Arschlöchern von Deutschlehrern – Entschuldigung – sein wollte, darum ging es.

Fühlst Du Dich jetzt im Alltag behindert?

Ich erlebe das schon noch als eine angestrengte Situation. zum Beispiel: Ich muß einen Text handschriftlich entwerfen, der nicht noch mal bearbeitet wird. Das ist für einen, der diesen „Minimal Brain Defect“ hat, eine schwierige Situation. Da gibt man schnell mal das Papier jemand anderem und diktiert das. Ich finde ja, dieser Begriff „Minimal Brain Defect“ hat was sehr Tröstliches. Der packt das Problem in eine kleine Nußschale.

Ne Behinderung wie zusammengewachsene Zehen.

Man sagt, naja, gut, in dieser Kultur haben sie eben diese Form von Schriftsprache ausgebildet. In einer anderen wäre er möglicherweise bevorzugt. Möglicherweise wäre ich gut in Hieroglyphen.

Fragen: Jochen Grabler