Wie sieht ein „und“ aus?

■ Eine neue Bremer Legasthenie-Praxis hilft den „Rechtschreibschwachen“ beim Denken in Bildern

Boris, neun, Legastheniker, lernt Lesen und Schreiben. Er sitzt mit seiner Therapeutin am Fenster, formt Buchstaben aus brauner Knetmasse. Nach zwanzig Minuten springt er auf, rennt ins Nebenzimmer, greift sich die roten Boxhandschuhe und trommelt auf den Sandsack ein, der von der Decke hängt. Voller Wut knallt er einen Gummiball an die Wand. Erst wenn ihm der Schweiß von der Stirn tropft, ist er wieder bereit, zu lernen. Für die nächsten zwanzig Minuten. Vier Tage lang geht das in dem Wechsel, bis Boris endlich ein wenig zur Ruhe kommt. Die Therapiewoche ist dann auch schon fast zu Ende, und Boris muß wieder zur Schule. Er nimmt seine Knet-Buchstaben mit nach Hause. Er will das schaffen.

Boris wird es schaffen, davon sind die drei MitarbeiterInnen von „Igel“ überzeugt, der ersten Praxis für ganzheitliche Legastheniebehandlung in Bremen. Seit April beraten Eva Albrecht (Therapeutin), Eva Köhn (Psychologin) und Herbert Schmitz (Lehrer) Kinder und Erwachsene mit Lese-Rechtsschreibschwächen. Salopp gesagt, versuchen sie, ihnen das Stigma der „Schwachen“ zu nehmen. „Schwach sind Legastheniker nur, wenn man sie unter Druck setzt und zum Nonverbalen zwingt“, sagt Eva Albrecht. „Verbal sind uns diese Menschen um Längen voraus. Sie denken in Bildern – und das zigmal schneller als wir.“

Wer ausschließlich in Bildern denkt, hat Probleme mit der Schrift, mit den vielen abstrakten Zeichen und Zeichenketten, und verliert sich darin. Die Buchstaben verzerren sich, beginnen zu tanzen, die „Lesende“ gerät in Streß und phantasiert. Einige Legasthenie-TheoretikerInnen sprechen von „Desorientierung“. Ronald Davies, ein amerikanischer Selbstbetroffener mit IQ 137, inzwischen einschlägiger Therapeut und Autor, hat diesen Ansatz letztes Jahr nach Europa gebracht. Das Bremer „Igel“-Trio griff ihn auf.

„Wir helfen Legasthenikern, Bilder für Worte zu schaffen, die ohne Bilder sind“, erklärt Eva Köhn, die Psychologin. Etwa 250 Worte ohne Bild habe die deutsche Sprache. Das „und“ zum Beispiel.

Boris hat also sein Alphabet nun vor sich liegen. Er greift sich das U, das N, das D, er kann das Wort jetzt riechen, fühlen, (essen?). Dann erzählt er von seinen letzten Ferien: Er war mit Oma und Opa auf dem Reiterhof. Das und bekommt so langsam eine Geschichte und Bedeutung.

3.000 Mark kostet eine „Igel“-Woche Boris' Eltern; achtzig Prozent der „Igel“-KlientInnen sind Kinder. Sie sind im gesellschaftlichen Lese- und Schreibzwang oft der Überforderung ihrer Eltern und LehrerInnen ausgeliefert. Das „Igel“-Trio drängt deshalb darauf, daß PädagogInnen sich fortbilden und die Schulen mehr Förderunterricht anbieten (der z.Zt. zusammengestrichen wird). Schon rufen SchulleiterInnen auf Hinweis der Eltern bei „Igel“ an und bitten um Unterstützung. Auch Boris wird nach der einen Woche noch nicht seinem Schicksal überlassen. Er kann freiwillig einmal die Woche wieder kommen, seine Hausaufgaben mitbringen und den Streß vor dem anstehenden Diktat (am Sandsack) abbauen.

Ob die Krankenkassen jemals diese Therapie bezahlen, ist noch offen. Denn sie wollen Erfolge sehen. Nach Jahren der „Schmach“ haben sich erwachsen gewordene LegasthenikerInnen jedoch oft persönliche Vermeidungspraktiken und Ablenkungsmechansimen entwickelt (vgl. obiges Interview). Iris M. (Studentin) hat den Deutsch-Leistungskurs mit Eins absolviert, kann aber ihrem Kind keine Entschuldigungen schreiben. Die junge Mutter kann nicht lesen, doch ihre Aufsätze werden stets hochgelobt. Iris M.'s Geheimnis: Worte, die sie zwar gehört hat, aber nicht aufs Papier zu bringen vermag, umschifft sie mit den blumigsten Beschreibungen. Das kommt bei einem Entschuldigungsschreiben für die Schule weniger gut an. „Wenn Iris Schreiben und Lesen kann – dann hat sie alle Rechtschreibkundigen endgültig abgehängt“, sagt Therapeutin Eva Albrecht. sip

Am 20. Juni veranstaltet „Igel“ den Vortrag: „Legasthenie – Schwäche oder Gabe? Der andere Weg“. 20 Uhr, Feldstraße 52/54