Jenseits von Mottram Hall
: Herzlichst: Fuck off!

■ Manche halten Paul Gascoigne für genial, andere nur für genial einfältig

Wenn England heute nachmittag gegen die Schweiz die EM eröffnet (16 Uhr, ARD), sitzen die Hooligans nicht nur auf der Tribüne, sondern stehen auch auf dem Spielfeld. Die englischen Spieler haben Mitte der Woche jedenfalls die „kollektive Verantwortung“ für die Randale auf dem Rückflug von einem Trainingsspiel in Hongkong übernommen, bei dem ein Schaden von umgerechnet 12.000 Mark entstanden war. Inzwischen scherten zwei aus dem Kollektiv aus: Steve McManaman

Das ist Ralf SOTSCHECK

Sein Spieler: Eric Cantona (weil er während des Spiels auch noch Zeit fand, einen Neonazi per Kung-Fu-Tritt auszuschalten)

Sein Team: Irland (weil sie nicht dabei sind und deshalb keine Platte gemacht haben)

Europameister 96: Frankreich (weil die Mannschaft es sich offenbar leisten kann, ohne ihren Besten anzutreten – Cantona).

und Robbie Fowler ließen durch ihre Anwälte verlauten, daß sie mit den zertrümmerten Fernsehern an Bord der Cathay-Pacific-Maschine nicht das geringste zu tun hätten.

Einer blieb still: Paul Gascoigne, dessen 29. Geburtstag man feuchtfröhlich hoch oben in der Luft gefeiert hatte. Nach der Landung war „Gazza“ völlig betrunken über einen Fotografen hergefallen, so daß mehrere Unterhausabgeordnete forderten, den Mittelfeldspieler in die Wüste zu schicken. Das kann sich England-Trainer Terry Venables aber nicht leisten, denn mit dem Geist von 1966, der jetzt allenthalben beschworen wird, ist es nicht getan. Er braucht Gascoigne, weil er der einzige im Team ist, der auch mal eine überraschende Idee hat – manchmal sogar auf dem Spielfeld.

Venables bezeichnete ihn als „Herz der Mannschaft“. Kopf des Teams ist er sicher nicht, denn den hat er hauptsächlich für seine ständig wechselnden Frisuren. Vor drei Jahren, als er noch in Italien spielte, gab er als einzige Antwort während eines Interviews einen langgezogenen Rülpser von sich. Viele meinen, daß sei bis heute seine intelligenteste Äußerung gewesen.

Auch seine Mitspieler bei Glasgow Rangers halten ihn offenbar für einen Einfaltspinsel. So hatten sie ihm erklärt, daß er nach einem Tor einen Querflötenspieler imitieren müsse. „Gazza“ tat im Lokalderby gegen Celtic, wie ihm geheißen, und prompt gab es Schelte: Die Querflöte ist das Symbol der protestantischen Triumphzüge, die Geste war eine Provokation für die Fans des katholischen Gegners. Gazza beteuerte, er habe das nicht gewußt, und man ist geneigt, ihm zu glauben.

Mit Tottenham gewann er 1991 seine bisher einzige Trophäe, den englischen Pokal. Kleiner Schönheitsfehler: Er beging im Finale ein Amok- Foul und verletzte sich dabei so schwer am Knie, daß man ihn schleunigst nach Italien verkaufte.

Seitdem läuft er eigentlich ununterbrochen Amok: Er verprügelte einen italienischen Kellner, brach sich die Kniescheibe bei einer Schlägerei in einem Nachtclub, rief den norwegischen Fans im Fernsehen ein herzliches „Fuck off“ zu, überhäufte einen indischen Kellner mit rassistischen Sprüchen, erzählte der News of the World, daß er seine Freundin Sheryl Kyle seit zwei Jahren verhaue und vermöbelte einen italienischen Fotografen, wofür er im Oktober vor Gericht muß.

Seiner Beliebtheit tut das alles keinen Abbruch. Die Fans spüren, daß er einer von ihnen ist und nur durch Zufall unten auf dem Platz steht, statt mit ihnen auf der Tribüne zu trinken.

„Er wird entweder ein ganz Großer“, prophezeite ein Mitspieler schon 1988, „oder er wird sich mit 40 verbittert beklagen, sein Talent verschwendet zu haben.“ Noch ist nicht alles verloren. Ralf Sotscheck