Aufrecht ihre Haltung, ruhig ihr Atem

Sie hat sich strafbar gemacht, nicht schuldig: Vor Gericht verteidigt die Psychologin Tamar Segal ihre Fluchthilfe für Thomas Holst als zivilen Ungehorsam im Kampf gegen ein verkommenes System  ■ Aus Hamburg Jan Feddersen

Auch am zweiten Verhandlungstag betritt die Angeklagte locker den Gerichtssaal des Hamburger Landgerichts, als erwarte sie nichts als eine Supervision unter Kollegen, die etwas schwer von Begriff sind. Nimmt Platz zwischen ihren Verteidigern Udo F. Jacob und Yitzhak Goldfine. Dreht ihren Kopf nur kurz nach links, um hinter der dicken Glasscheibe zu den Zuschauerstühlen Bekannte auszumachen. Sie ist nicht allein, nickt kurz und lächelt, wendet sich aber gleich wieder ruhig den Blättern zu, die sie vor sich ausbreitet.

Tamar Segal, angeklagt der Fluchthilfe für den dreifachen „Heidemörder“ Thomas Holst, guckt während der ganzen Verhandlung nie zur Empore, wo die Richter und Schöffen sitzen. Das juristische Procedere scheint sie nicht wirklich zu interessieren. Aufrecht ihre Körperhaltung, ruhig der Atem. Die 40 Jahre alte Psychologin zeigt nicht das kleinste Zeichen von Demut und wirkt, als könne kein Gericht der Welt ihr etwas anhaben. Ihr Anwalt sagt: „Nirgendwo steht geschrieben, daß Angeklagte ihre Würde ablegen müssen.“

Mit dem Richter spricht Tamar Segal nie – später wird sie selbst seine Frage, ob sie weiterlesen lassen oder erst zu Mittag essen möchte, nur mit ihren Advokaten erörtern. Ihre Anwälte haben zunächst den vierten Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Hans Runge gestellt. Der Anlaß ist scheinbar banal. Runge hat einem früheren Psychologieprofessor Segals eine Besuchserlaubnis im Untersuchungsgefängnis ohne Bewachung erteilt – was er zuvor nie zulassen wollte. Für Segal ist dies ein Bruch mit dem richterlichen Neutralitätsgebot, denn Paul Probst soll in einem Brief an sie geschrieben haben, daß er glaubt, sie habe nicht die volle Wahrheit gesagt. Den Vorgang empfindet die Angeklagte als Beeinflussung – offenbar habe sich der Richter von Probsts Besuch etwas erhofft.

Die beiden beisitzenden Richter wechseln sich beim Vorlesen ab. Segal hat 62 engbedruckte Seiten verfaßt: „Notizen aus meinem Gefängnisalltag“. Sie schildert darin ihre Gründe, Holst „befreit“ zu haben. Am Ende des Tages wird es heißen: „Ich habe mich strafbar gemacht.“ Nicht formuliert hat sie: „Ich bin schuldig.“ Das kann sie auch nicht, denn im moralischen Sinne fühlt sich Segal allemal im Recht. Was auch immer das Gericht befindet, es wird sie nicht beeindrucken, „nicht brechen“, wie eine Zuhörerin bang hofft. Während ihre Verteidiger auch in Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft versuchen, sie mit einer Bewährungsstrafe davonkommen zu lassen, scheint ihr das Strafmaß egal. Gefängnis oder Freiheit – ihr wäre das einerlei. Ihr Ziel hat sie erreicht, was folgt, erscheint nebensächlich. Sie kann ausführlich darlegen, warum sie zur Täterin im Sinne des Strafgesetzbuches wurde – und damit gleichzeitig sämtliche Spekulationen zurückweisen: Eine Liebesbeziehung war es nicht, die sie mit Thomas Holst verband. Sie ist lesbisch und empfindet offenbar jede Vermutung, daß dem nicht so sei, als obskur.

Aber noch wichtiger ist, daß der „Befreite“ während der drei Monate in Freiheit nicht wieder eine Frau ermordet und sich zudem an die Verabredung mit seiner Helferin gehalten hat, sich der Polizei zu stellen, wenn sie festgenommen wird und er sich dadurch „labilisiert fühlt“. Denn nur darum war es ihr zu tun: Den Beweis anzutreten, daß die Gerichtspsychiatrie versagt, daß sie „Menschen einsperrt“, die „Therapie verdient“ haben: Es gebe keine hoffnungslosen Fälle, schreibt Tamar Segal in ihren „Notizen“. Auf die Anklagebank gehöre nicht sie, sondern die Psychiatrie.

In der Tat schildert sie skandalöse Zustände aus dem Haus 18, in dem Holst einsaß. Berichtet vom Alltag ihrer Kollegen und des Pflegepersonals. Vom Zynismus der Routine und dem fehlenden Engagement den Patienten gegenüber. Zeigt auf, daß sie nicht besonders drängen mußte, um Holst behandeln zu dürfen. Schließlich fiel es ihr leicht, ihrem Vorgänger Fehler über Fehler nachzuweisen. Das Haus 18 des AKO schildert sie dementsprechend als „Verwahrung“, aus dem Holst in den Normalvollzug „abgeschoben“ werden sollte, ihre Fluchthilfe folglich als „zivilen Ungehorsam“.

Überhaupt ist ihr die Sprache jener Generation eigen, die einige Jahre jünger ist als die der Achtundsechziger. Doch im Gegensatz zu den Vätern und Müttern der wilden Zeit Ende der Sechziger, gehört Segal zu jenen, die deren Anliegen nicht in BAT-II-a-Verträge ummünzen wollten: Der Angeklagten ist jeder postmoderne Charme des Laisser-faire, jede Coolness fremd. Ihr ist tatsächlich nicht egal, was mit der Welt passiert: Gegen Segal nehmen sich heute Angeklagte wie Andreas Baader und Gudrun Ensslin – Prototypen der Achtundsechziger – wie kühle Ironiker aus.

Ihre „Notizen“ sind gespickt mit den Vokabeln, die Anfang der achtziger Jahre den Wortschatz zu bilden begannen, mit dem die Welt wahrgenommen werden sollte: Es sind Begriffe des Scheiterns und solche von unerfüllten Hoffnungen. „Totale Totalität“ oder auch „Abschiebung“: Worte, die nur dann von den Sprechenden gewählt werden, wenn sie sich längst ausgegrenzt fühlen. Und Tamar Segal fühlte sich nicht zugehörig. Nicht als Jüdin, deren Mutter im KZ Theresienstadt war. Als „Jüdin und Frau“ habe sie Verantwortung übernehmen müssen: Im Kollegenkreis galt sie als eine, die rund um die Uhr sich für alles zuständig erklärte. Eine, die nie privat wurde, nie auch nur andeutete, daß sie vielleicht einmal nur begrenzt, also menschlich handeln könne. Ausländer, Atomkraft oder Psychiatrie, Metaphern für die leidende Welt, die kaum zu retten ist und deren Helfer unerhört bleiben: Holst' Befreiung war ihr Kampf des „David gegen Goliath“.

Es ist eine hermetische Welt, in der Tamar Segal lebte: Ihre langjährige Lebensgefährtin, die unter dem Fahndungsdruck der Polizei Ende vergangenen Jahres einen Selbstmordversuch unternahm und später Aussagen machte, zieh sie des „Verrats“ – was im Bewußtsein der Angeklagten das schlimmste Vergehen wider einen Menschen ist. Ausgeblendet hat sie dabei, daß ihre Freundin sich offenbar schon länger verlassen fühlte von ihr und das Anliegen der Polizei, Holst wieder gefangennehmen zu können, nicht ganz unplausibel fand. Daß Tamar Segal sie nicht einweihte in den Plan und die Tat, muß die einstige Lebensgefährtin ihrerseits als Bruch des Vertrauens wahrgenommen haben.

Bei Tamar Segal findet darüber kein Nachdenken statt: Selten findet sie zu einer Formulierung in der ersten Person Singular – und wenn, „Ich durfte nur in Hand- und Fußschellen meinen Vater am Krankenbett besuchen“, dann dient auch dieser Besuch beim sterbenden Vater im strengen Duktus ihrer „Notizen“ nur als Beleg: Daß sie und ihre Ambitionen verfolgt werden. Für sie ist der Zusammenbruch der Freundin ein weiterer Beweis, daß von den „herrschenden Verhältnissen“ nichts Gutes zu erwarten ist.

Insofern ist die Beschreibung, Tamar Segal leide schlicht unter einem „Helfersyndrom“ (Die Woche), eher verharmlosend: Sie braucht nicht nur den Patienten, um ihm ein „Geschenk“ zu machen, als das die Angeklagte „Psychotherapie“ begreift. Sie benötigt darüber hinaus die Gewißheit, etwas Aussichtsloses zu behandeln, um der Welt zu zeigen, was alles ginge, wenn man auf sie und ihresgleichen nur hörte. Sie selbst, als Mensch, kommt dabei nie ins Spiel: Schenkende sind moralisch im Recht – und durch den Akt der guten Gabe sakrosankt. Begreift denn niemand, daß Tamar Segal nur Gutes will?

Ihre Sorge um das Schicksal von Thomas Holst war doch berechtigt: Wird nicht der verurteilte Mörder auch bei lebenslänglicher Haft irgendwann einmal freikommen und dann womöglich wieder eine Frau umbringen? Muß da nicht versucht werden, ihm therapeutisch zu helfen? Ist es etwa nicht wahr, daß im Haus 18 nicht genug unternommen wird, aussichtslose Fälle zu behandeln? Segal spricht von „Solidarität“, die sie vermißt habe – für was auch immer. Von einer Haltung des Unterstützens und nicht des Wegschiebens: Versteht denn niemand diese simple Botschaft, daß ein Mensch kein Schwein sein soll?

Segal kann nicht akzeptieren, daß zu einem Job auch die Distanz zur Arbeit gehört. Dazu sagt sie in ihren „Notizen“, daß Therapie in erster Linie mit dem Herzen übereinstimmen müsse. Es gelte, Verständnis aufzubringen für alle Menschen, die besinnungslos in „den Strukturen leben“ und andere Menschen peinigen. Die Angeklagte würde überhaupt von sich weisen, als Psychologin einen Job zu übernehmen: Sie hat die Seelenkunde studiert, um eine Mission zu erfüllen – das macht sie gleich mit allen ihrer Generation, die den Reaktorunfall von Tschernobyl als „Ökoauschwitz“ mißverstanden haben.

Segal handelte in diesem Sinne nur konsequent, als sie Thomas Holst befreite. Ihr sollte gekündigt, Holst in den Normalvollzug überführt werden – nur weil Segals Kollegen keinen allzu großen diagnostischen Aufwand betrieben: „Flucht war die einzige Möglichkeit“, läßt sie vorlesen, auch, daß sie sich in einer „Notstandssituation“ befunden habe, um ein „Todesurteil“ abzuwenden. Sie merkt nicht, wie verlassen solche Analysen sich anhören.

Der Prozeß ist ohne Ferienunterbrechung bis Ende August terminiert. Ginge es nach Verteidiger Udo F. Jacob, könnte sofort plädiert werden – im Namen seiner Mandantin auf eine Bewährungsstrafe. Segal wird die schlimmste Strafe erst noch realisieren müssen, verhängt ist sie längst. Sie muß damit rechnen, nie wieder dort arbeiten zu können, wo sie ihre Mission glaubt: Dort, wo die schwersten Fälle sind, in Psychiatrien oder anderswo, wo Leiden auf Behandlung warten.