■ Die Politik kann nicht gesellschaftliche Innovationen einfordern, an den Unis aber nur noch sparen, sparen, sparen
: Der Frosch im Wasserglas

Einträchtig bemühen sich Berliner Politiker, aus ihrer Stadt die Hauptstadt des Landes Absurdistan zu machen. Nicht nur, daß der Senat von 115.000 Studienplätzen 30.000 streichen will, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, Klaus Böger, will zudem ganze Bereiche der drei Universitäten schließen. Seine Begründung: „Drei Universitäten sind in ihrer jetzigen Form kontraproduktiv und nicht mehr finanzierbar.“ So denkt ein Sozialdemokrat über Universitäten, in denen sich ohnehin schon zwei Studierende einen nominellen Studienplatz teilen. Was immer Böger unter kontraproduktiv versteht, er will Fachbereiche, wenn nicht sogar eine ganze Universität auflösen und die verbliebenen Studenten noch enger zusammenpferchen.

In Fensterreden werden inzwischen wieder Rückzieher gemacht. Wissenschaftssenator Peter Radunski tönt, er wolle die drei Berliner Universitäten erhalten. Aber schon im nächsten Satz droht er, „Doppelangebote von Studienfächern abzubauen“. Die Politik geht vom Sparen zur finalen Destruktion des Kerns der Hochschulen über. Man merkt es nur nicht gleich. Es ist wie beim Frosch im Wasserglas. Steckt man ihn ins heiße Wasser, springt er im großen Bogen heraus. Steckt man ihn ins kalte Wasser und erwärmt es langsam, erträgt er die Erwärmung, bis er aufhört, ein Frosch zu sein.

Wir haben schon fast vergessen, was eine Hochschule ausmacht und daß man sie nicht zusammenlegen darf wie Abteilungen fusionierter Schraubenfabriken. Das Gegenteil wäre richtig: Große Fachbereiche müssen in mehrere kleine aufgeteilt werden. Das war doch die Lehre der siebziger Jahre und eine der Maximen beim Aufbau der zuletzt in der alten Bundesrepublik gegründeten Universität, der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Sie sollte eine kleine Hochschule mit nicht viel mehr als 4.000 Studierenden bleiben. Denn nur in überschaubaren Einrichtungen können sich die Wege unterschiedlicher Fachbereiche so kreuzen, daß daraus Neues entsteht.

Zehn bis fünfzehn Prozent der Zeit sollten in einer Uni für ungeplante Kontakte und für zufällige Gespräche frei bleiben, fürs Informelle also, das von keinem Curriculum vorweg definiert werden kann. Denn in diesen Zwischenräumen, so die Idee des Gründungspräsidenten Günther Danielmeyer Mitte der 80er Jahre, finde die eigentliche Universität statt, und wenn man für sie nicht Raum und Zeit, also Muße schaffe, dann solle man lieber ein Fernstudium entwerfen, aber nicht länger von Universität reden. Gründungspräsident Danielmeyer, ein Physiker, wußte, was passiert, wenn Tausende von Chemikern immer nur auf Chemiker treffen und Germanisten nur auf Germanisten: Dann verklumpen Zwischenräume. Kreativität kann man eben nicht planen, sondern nur ermöglichen.

Politikern, die Zwischenräume, die sie kontraproduktiv nennen, abschaffen wollen, geht am Sonntag die Mahnung, daß der Standort Innovation brauche, ebenso gedankenlos von den Lippen wie am Montag die Sparparole. Sie schwadronieren unerbittlich von Innovationen, deren Grammatik sie nicht begreifen und deren Voraussetzungen sie tölpelhaft zerstören. Sie denken linear und handeln schematisch wie schlechte Verwaltungsbeamte. Wir sollten aufhören, solche Leute Politiker zu nennen, und Hannah Arendt folgen, die unter Politik die Kunst des Anfangens verstand.

Wie könnte heute ein mutiger Anfang an den Universitäten und Hochschulen aussehen? Große Hochschulen mit ihren riesigen Fachbereichen wären in überschaubare, selbständige und eigenwillige learning organizations aufzuteilen. In sie wäre so großzügig zu investieren, wie es uns die Natur in all ihren generativen Anstrengungen verschwendungsreich und lustvoll vormacht. Diesen unvermeidlichen Überschuß oder gar den Eros, der uns dazu drängt, die Welt und uns neu zu erfinden, kann man nicht dem Staat abverlangen. Im Gegenteil. Aber die Politik hat diese Fragen an die Spitze der Tagesordnung zu setzen: Was ist eine Akademie, und was ist bloß eine Lernvollzugsanstalt? Was versetzt Einrichtungen in die Lage, Akademien zu werden? Wie gelingt der Übergang von der belehrenden Anstalt zu einer an sich selbst und in der Welt lernenden Organisation, in der eben nicht vor allem über Dinge doziert oder gelabert wird. Wenn diese Fragen ausbleiben, tritt an die Stelle experimenteller Antworten resigniertes Schweigen oder das Gequassel der Innovationszyniker. Die Temperatur des Frosches in dem Glas, das wir Standort nennen, ist dabei, vom lethargischen ins letale Stadium überzugehen. Wenn er nicht doch noch springt, wird er bald reif für die Anatomie sein.

Übrigens hat sich der Physiker Günther Danielmeyer von Siemens abwerben lassen. Dort ist er jetzt im Vorstand für Forschung und Entwicklung zuständig. Wenn Danielmeyer heute auf die Hochschulen blickt, dann beobachtet er, daß ihre Absolventen nicht gestärkt, sondern geschwächt die Alma mater verlassen, die eben keine Alma mater mehr ist, sondern eine zugige Wartehalle für Findelkinder. Ausgerechnet die Megafabrik Siemens beginnt, was sich derzeit kein Bildungspolitiker vorzustellen vermag: Das Imperium wird in 250 teilautonome Einheiten tranchiert.

Bloß die Geld- und Stellenforderungen der Hochschulen zu erfüllen würde ihnen nicht über ihr „Weiter so!“ hinaushelfen. Wir brauchen eine andere Ökonomie der Kräfte und der Energien, auch der Ideen.

Von den müden Hochschulen wollen wir etwas anderes als Klagen hören. Immer nur an den Staat zu appellieren ist unwürdig und infantil. Die Hochschulen müssen Bündnisse mit der Gesellschaft initiieren, und die Gesellschaft könnte handeln, wenn zum Beispiel steuerlich begünstigte Bildungsaktien von den Erwerbern dieser Aktien gezielt zur Unterstützung selbstgewählter Forschungsvorhaben und Ausbildungsmodelle erworben würden. Unter diesem Aspekt könnte auch die Debatte um Studiengebühren, die allerdings wie in Australien erst nach Abschluß des Studiums zu entrichten wären, einen neuen Drive bekommen. Wenn aber zwischen Hochschulen und Gesellschaft kein gegenseitiges Geben und Nehmen aufkommt, dann werden die Hochschulen weiter amputiert. Andere Empfänger in der großen Umverteilungsrochade namens Staat haben eben eine bessere Lobby als Einrichtungen mit so langer Inkubationszeit, wie sie die Bildung nun mal braucht. Reinhard Kahl