Westerwelle, sonst nichts

■ Der FDP-Generalsekretär schenkt den Liberalen, was sie bereits verloren glaubten: Bedeutung. Und sie danken es ihm mit Folgsamkeit Aus Karlsruhe Dieter Rulff

Westerwelle, sonst nichts

Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter, bei der FDP nur einen: Guido Westerwelle. Und der hat seinem Kind an diesem Wochenende einen programmatischen Namen gegeben: „Karlsruher Entwurf für eine liberale Bürgergesellschaft“. Zwar soll es erst im Mai 1997 auf dem Bundesparteitag verabschiedet werden, doch schon jetzt wird das Papier in den gleichen Rang gehoben wie die legendären Freiburger Thesen.

Wird Guido Westerwelles Bedeutung für die FDP ermessen, dann fällt als Bezugsgröße schon mal der Name Karl-Hermann Flach. Der leitete als Generalsekretär mit diesen Thesen die sozialliberale Reformära der siebziger Jahre ein. Doch wohin geht die Reise der FDP mit Westerwelle? Die Antworten, die der 35jährige den 662 Delegierten des Karlsruher Bundesparteitages gibt, sind zunächst widersprüchlich. Für ihn haben die Freiburger Thesen „unverändert Gültigkeit“, der Karlsruher Entwurf löse sie nicht ab, sondern schreibe sie fort. Doch „die Schlachten der fünfziger und siebziger Jahre zu schlagen“, da ist sich Westerwelle genauso sicher, „ist nicht das Rezept einer erfolgreichen Partei“.

Und erfolgreich will er sein. Er schlägt die Schlachten der neunziger Jahre – und die werden gegen die Überforderung des Staates, die Staatsverschuldung, die zu hohe Staatsquote (der Anteil von Staatsausgaben und Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt) und das falsche Staatsverständnis geführt. Erstaunliche Worte im Programmentwurf einer Partei, die wie keine zweite über Jahrzehnte den bundesdeutschen Staat verkörperte und sich ihn zeitweise zur Beute machte. Der Widerspruch veranlaßt Westerwelle zu einem offenherzigen „auch wir haben mitgemacht“. Ein mea culpa, das aus seinem Munde nicht nach bußfertigem Innehalten, sondern eher nach Ablaß klingt. Der wird um so leichter gewährt, als der Generalsekretär seine Jugend als mildernden Umstand vorweisen kann.

Folgt man Westerwelle, befinden sich die Adressaten der Klage sowieso weniger in den eigenen Reihen, als bei den anderen Parteien, „für die der Staat eine möglichst perfekte Problemlösungsmaschine“ sei. Westerwelle ist in seiner Offensive schrankenlos. Es gebe, so schwadroniert er, „keine Partei, die so schamlos Gefälligkeiten an ihr eigenes Klientel verteilt“ wie die Grünen. Einen Beleg bleibt er schuldig, der Saal quittiert die Chuzpe mit Applaus.

Westerwelle steht unter Dampf, und er macht Dampf. Kein Rechter und kein Linker muß ihm recht geben, sondern nur der Erfolg. Denn der ist es, der die anderen viel nachhaltiger zum Schweigen bringt als alle Fraktionierungen. Das spürt die Partei, seit sie im März nach Monaten wieder Wahlerfolge erzielte. Und sie dankt es ihrem Generalsekretär mit Folgsamkeit. Sie respektiert ihn, zumal er seinen Job vor anderhalb Jahren in einer Situation absoluter Aussichtslosigkeit und innerer Zerstrittenheit übernahm. „Wir sind aus dem Tal, aber noch nicht übern Berg.“ Westerwelle gibt den Liberalen, was sie bereits verloren glaubten: Bedeutung. Und er vermittelt, was sie so lange vermißten: eine Perspektive.

So hemmungslos er die Vergangenheit verdrängt, so gnadenlos setzt er auf die Zukunft. Wo die Grünen noch meinen, sie hätten die Erde von ihren Kindern geliehen, besteht bei ihm die Leihgabe in den Konten der öffentlichen Hände. Die sollen ausgeglichen werden. Nicht Natur, sondern Geld gilt es der kommenden Generation zu sichern – moderne Zukunftsicherung der liberalen Art. Das läßt die Grünen wertkonservativ und ihren Protagonisten alt aussehen. Zumal Joschka Fischer sich erkennbar bemüht, auf des Liberalen Pfaden zu wandeln.

Westerwelles Stärke ist der innere Zwiespalt der anderen Parteien. Wo die noch über den richtigen Ausgleich im gesellschaftlichen Verteilkonflikt nachsinnen, ihren jeweiligen Königsweg zwischen Interessens-, Wert- und Wählerorientierung suchen, setzt der Liberale konsequent auf die Sicherung des Standorts Deutschland. Ihr gilt die Reduzierung der Staatsquote wie der Staatsverschuldung, der Abbau der sozialen Sicherung wie die Reform des Rentensystems. Das Wohlstandsniveau kann nicht gehalten werden, das ist die Message. Was der deutschen Wirtschaft nützt, kommt letztendlich der Bevölkerung zugute, das ist der Kern der Westerwellschen Programmatik.

Hier wird der Karlsruher Entwurf konkret. Keine der anderen Parteien wagt eine Antithese, und im Lichte ihres proklamatorischen Zauderns und ihres pragmatischen Schwankens besticht die Einfachheit und Klarheit der neuen liberalen Botschaft. Westerwelle hat das Spektrum freidemokratischer Politik radikal eingeengt und sie auf einige wenige Punkte fokussiert; die sind jedoch für die Gesamtgesellschaft von zentraler Bedeutung. Er hat so der FDP ein Profil gegeben und Erfolg wieder meßbar gemacht. Das war seine Rezeptur für seine malade Partei.

Da wagt auch der sozialliberale Flügel keinen grundsätzlichen Widerspruch mehr. Eher verhalten sind die Anmerkungen zu der, wie Leutheusser-Schnarrenberger betont, „wirklich guten Rede“ des Generalsekretärs. Der Staat, erläutert Burkhard Hirsch bescheiden, müsse auch „die sozialen Aufgaben unserer Zeit erfüllen“. Das ist allgemein gehalten, das tut keinem weh, das wird wohlwollend zur Kenntnis genommen und ins Programm eingearbeitet. Doch schon wenn Hirsch vor einer Gerechtigkeit warnt, die, wie Anatole France formulierte, es den Reichen wie den Armen gleichermaßen verbietet, zu betteln und unter Brücken zu schlafen, dann wird der Generalsekretär ungehalten. Soziale Kälte will auch er sich nicht nachsagen lassen. Wer nicht begreife, daß Freiheit mit sozialer Verantwortung zu tun habe, kontert Westerwelle, der habe das Programm nicht gelesen.

Im Programm reduziert sich die soziale Sicherung allerdings auf das Bürgergeld, ein sozialpolitischer Ladenhüter aus den achtziger Jahren, dessen Realisierung die FDP in ihrer 14jährigen Regierungszeit mit der Union kein einziges Mal nahe gekommen ist.

Sorgfältig achtet Westerwelle während des zweitägigen Marathons von Anträgen und Änderungsanträgen darauf, daß seine Handschrift im Programm erkennbar bleibt. Allein den medienwirksamen Begriff der „Gefälligkeitsdemokratie“ muß er sich rausstreichen lassen. Die Übel der Gesellschaft führt die FDP künftig auf „Gefälligkeitspolitik“ zurück. Westerwelle hat allerdings schon vor der entscheidenden Abstimmung deutlich gemacht, daß für ihn zwischen den beiden Begriffen keine Bedeutungsdifferenz besteht. Größere Änderungen erfährt das Programm ansonsten nicht.

Westerwelle ist wie Kinkel ein Seiteneinsteiger in der FDP. Ende 1994, als dieser bereits sein Ende als Vorsitzender nahen sah, wurde er Generalsekretär. Zuvor hatte es für den früheren Vorsitzenden der Jungen Liberalen nicht einmal zu einem Bundestagsmandat gelangt. Den diversen Fraktionierungen und Kreisen hat er sich bislang verschlossen, Westerwelles Kreis ist Westerwelle. Allerdings läßt er sich einbinden. In der Partei hat sich mittlerweile eines geändert, woran Kinkel letztendlich gescheitert war: Die Führungsgruppe ist homogener geworden. „Wir haben“, resümiert der Vorsitzende Wolfgang Gerhardt in Karlsruhe, „ein Team an der Spitze.“

Und dieses Team eint die Erkenntnis, daß „wir keine Chance haben, wenn wieder alte Zeiten anbrechen, wo jeder außerhalb der Halle sein Mikrophon suchte“. Damit keiner raussticht und Primadonnengehabe der Vergangenheit angehört, hatte der Vorsitzende seine Rede zur Eröffnung des Parteitages kurzerhand verlängert und um einige Inhalte angereichert. Und so fiel der Unterschied zur darauf folgenden Rede des Generalsekretärs nicht so kraß aus.