Westerwelle schnipselt am Sozialstaat

■ FDP-Parteitag diskutiert neues Grundsatzprogramm: Weg mit der „Gefälligkeitspolitik“, her mit dem schlanken Staat

Karlsruhe (taz/AP/AFP) – Den Staat „auf seine wesentliche Funktion zurückschneiden“ will das neue FDP-Grundsatzprogramm, das die Guido-Westerwelle- Partei am Wochenende auf ihrem Bundesparteitag in Karlsruhe diskutierte. Der wortgewandte FDP-Generalsekretär und seine Besserverdienenden suchen damit die Maximierung ihrer Wählerstimmen auf Kosten der Schlechterverdienenden. Das, woran die FDP in den letzten 27 Jahren als Regierungspartei kräftig mitgewirkt hat, wurde auf dem Karlsruher Parteitag in eine „Gefälligkeitspolitik“ umgetauft.

In der von den Liberalen nun angestrebten „Verantwortungsgesellschaft“ sollen dagegen soziale Leistungen abgebaut und – zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen – Tariflöhne gesenkt werden können. Staatliche Sozialleistungen will die FDP in einem Bürgergeld zusammenfassen. Das Rentenalter soll erhöht und die Bedingungen privater Vorsorge sollen verbessert werden.

Die Steuern will man radikal senken: Das jetzt verabschiedete Modell von FDP- Fraktionschef Hermann Otto Solms sieht nur noch drei Steuerklassen vor. Bei einem Einkommen von bis zu 20.000 Mark wären demnach höchstens 15 Prozent Steuern zu zahlen, zwischen 20.000 und 60.000 maximal 25 und über 60.000 höchstens 35 Prozent – eine deutliche Entlastung vor allem für Wohlhabende. Die Belastung der Bürger soll auf ein Drittel der Einkommen begrenzt werden, neue Steuern bedürften einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag.

Das Steuersystem möchten die Liberalen am liebsten noch in der laufenden Legislaturperiode entsprechend verändert wissen. Die Neuverschuldung des Staates wollen sie in der Verfassung verbieten. Das Grundsatzprogramm soll nun ein Jahr lang diskutiert werden, bevor es endgültig verabschiedet wird.

„Die Wüste lebt“, so zog FDP-Chef Gerhardt gestern zufrieden die Bilanz des Parteitags. „Die FDP ist wieder da“, freute sich Außenminister Kinkel. Die Partei „ist quicklebendig und hat einen klaren Kurs“, meinte Generalsekretär Westerwelle. „Die anderen Parteien werden am Montag ganz schön alt aussehen“, freute sich Exparteichef Genscher über das erwartete Medienecho. „Noch können wir Themen setzen, auf die die anderen reagieren müssen.“ Mit der eigenen Verschlankung der Gremien ist die FDP am Wochenende allerdings nicht sehr weit gekommen. Die geplante Parteireform wurde nach heftigem Widerstand der Delegierten vertagt.

Im Streit über die geplante Verschärfung der Abtreibungsregelung in Bayern will die FDP den Freistaat auch vor dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht angehen. Der Parteitag von Karlsruhe verlangte gestern einstimmig, den Gesetzentwurf zurückzuziehen. Die 662 Delegierten forderten die FDP-Bundestagsabgeordneten auf, das „bayerische Vorgehen nötigenfalls in einem Normenkontrollverfahren vor das Bundesverfassungsgericht“ zu bringen.

In der Einwanderungspolitik sprach sich die FDP für klare Regelungen und Quoten für die Zuwanderung aus. Die Einbürgerung von AusländerInnen solle beschleunigt werden.

Heftige Kritik übten die Liberalen an der CSU wegen deren Äußerungen zum deutsch-tschechischen Aussöhnungsprozeß. Die Christsozialen wurden aufgefordert, die Gespräche zwischen Bonn und Prag über eine gemeinsame „Schlußstrich“-Erklärung nicht länger zu stören. klh

Tagesthema Seite 3, siehe auch Seite 4