10 Jahre Unperson

■ Der Chronist und Schriftsteller Walter Kempowski plant nach seinem „Echolot“-Großprojekt ein noch größeres: die Aufarbeitung des Jahres 1945 in 16 Bänden / Besuch bei dem Mann, der acht Jahre Haft in Bautzen verbüßte

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n der Tankstelle fahren Sie rechts rein, folgen der S-Kurve und dann ist es das letzte Haus auf der rechten Seite“. Ich habe die Wegbeschreibung noch genau im Ohr. Nun halte ich nach einem sehr großen Briefkasten Ausschau, in dem die vielen Tagebücher, Fotos und Briefe Platz finden könnten, die Walter Kempowski täglich erhält. Stattdessen gerät mir ein neuer silbergrauer 200er Mercedes in den Blick. Wir haben eindeutig den gleichen Weg, und mit Sicherheit ist die schicke Fahrerin nicht auf dem Weg zum Kartoffelbauern, sondern zu Kempowski. Wird der Meister den Interview-Termin doppelt vergeben haben? Wir blicken uns ratlos an.

Doch bald ist das Rätsel gelöst. Die Leute bringen etwas mit, wollen mit einem Tagebuch Material zu Kempowskis Großprojekt beisteuern. Walter Kempowski bittet mich an den gedeckten Teetisch. In den nächsten Stunden wird sich Hildegard Kempowski mit den ungebetenen Besuchern beschäftigen und regelmäßig durch die Türspalte Bericht erstatten: „Die wollte gar nichts beisteuern! Sie scheint eher einen Ghostwriter für ein Tagebuch zu suchen, das überhaupt noch nicht geschrieben ist.“ Frau Kempowski wird ungehaltener: „Was sich die Leute einbilden. Eben fragte der alte Mann: ,Nicht wahr, Ihr Mann macht doch sowas Ähnliches wie ich? Wie nennt er sich eigentlich von Berufs wegen?' Als es dann Schriftsteller hieß, da war er doch verblüfft.“

Eine Frage liegt an diesem Nachmittag schon seit längerem in der Luft. Des öfteren wurde sie auch schon mit giftigem Unterton gestellt: Was treibt ein populärer Bestsellerautor wie Kempowski? Kann einer Schriftsteller sein, der keine Zeile mehr schreibt? „Plagiat“, geißeln die schärfsten Kritiker das „Echolot“-Textkonvolut. „Es wird ein Standard-Werk, um das bald keiner mehr herumkommt“, meint Kempowski selbst.

Seit 1980 hat Walter Kemposki für sich den Begiff des Autors neu definiert. Nun schreibt er nicht mehr aus der Haltung eines Ich-Erzählers oder seiner Figuren, sondern verwebt die allerbanalsten Tagebucheintragungen, Briefe und Suchmeldungen zu einem Text. Und seitdem sieht ihn das deutsche Feuilleton mit scheelen Blicken an. „Ich wurde geächtet und gemieden, zehn Jahre lang war ich für die einfach nur eine Unperson.“

Doch das ist nichts Neues für den Mann aus Rostock. Denn zu den strahlenden Wunderkindern der Literaturszene hat Kempowski nie gehört. Ganze acht Jahre verbrachte der Reeders-Sohn und gelangweilte Schüler – „Ich habe ewig geschwänzt, zu Schularbeiten konnte ich mich überhaupt nicht motivieren“ – wegen Spionageverdacht im Gefängnis. Als er 1956 die Mauern von Bautzen endlich hinter sich lassen konnte, hatte er nichts mehr: keine Freunde, keine Heimat, keinen Beruf – nur eine fixe Idee im Kopf: „Ich will Schriftsteller werden“. „Komisch“, wundert sich der 67jährige noch heute, „aber mir war mein zukünftiges Leben ganz klar. Ich wollte aufs Land, Lehrer an einer Zwergschule sein und schreiben. Der Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen. All die Jahre nicht.“

Das war auch bitter nötig, denn weder in Tübingen, wo Kempowski das Abitur nachholte und die Lehrerausbildung, noch später im niedersächsischen Nartum bei Rotenburg hatte man auf ihn gewartet. Am wenigsten der deutsche Literaturbetrieb der Nachkriegszeit. Jetzt kam es auf Kempowskis „mentale Stärke und Ausdauer“ an, wie man beim Tennis sagen würde.

Jahrelang wurden die Manuskripte des Schriftstellers Walter Kempowski in deutschen Verlagen abgelehnt. Anders wurde das erst, als ein gewisser Fritz Raddatz, damals Lektor des Rowohlt-Verlages, die Texte zu lesen bekam. Er reagierte sofort und riet: „Umschreiben! Raus mit all dem künstlerischen Wollen, der subjektiven Sprache des Autors. Das Thema Bautzen verlangt nach einem schlichten Stil.“ Kempowski ließ sich darauf ein und schrieb mit „Im Block“ seinen ersten Erfolgsroman. Von da an ging's bergauf.

Verdeutlichend präsentiert Walter Kempowski ein übersichtliches Schaubild. Von dem Jahrhundertwenderoman „Aus großer Zeit“ bis „Herzlich willkommen“ über die Jahre 1956/57 hat er fast lückenlos die deutsche Geschichte in eine literarische Form gefaßt. Die größten Erfolge feierte der Autor 1971/72 mit „Tadellöser & Wolff“ und „Uns geht es ja noch Gold“. Die Verfilmungen von Eberhard Fechner verschafften Kempowskis Anti-Helden zeitweise den Status von Kultfiguren. Redensarten wie „Ansage mir frisch“, „Was macht meine Haut?“ und „Alles klar und damit hopp“ machten die Runde. Was also bringt den gefeierten Autor („Meine Bücher haben immer schwarze Zahlen geschrieben“) dazu, von dem einmal eingeschlagenen Erfolgskurs abzuweichen?

„Das Warum der Nazi-Zeit läßt sich weder erklären noch aufschreiben. Nur wenn man sich vorstellt, daß all dies Grauen in den KZ stattfand, während normale Leute einfach im Café saßen, dann wird der Schrecken klar. Die Montagetechnik soll dies Nebeneinander deutlich machen.“ Walter Kempowskis Grundprinzip für „Echolot“ ist einfach erklärt. Er montiert aus den unterschiedlichsten Textfragmenten eine Gesamtcollage. Die einzelnen Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe und auch Fotos werden ihm in unüberschaubarer Menge täglich ins Haus gesandt, nachdem sich das Interesse an diesen privaten Texten herumgesprochen hat.

Unverzichtbar seit Jahren die Mitarbeit seiner Frau Hildegard. Kaum in den Westen gekommen, lernte er sie in der Tanzstunde kennen. Sie war die zweite von links. Beim dritten Treffen verlobte man sich. Noch heute, nach 40 Jahren Ehe, wirken die beiden wie ein frisch verliebtes Paar. „Sie ist das Glück meines Lebens“, hat Kempowski schon in Talkshows vor laufender Kamera gestanden, und er ist bereit, das jederzeit zu wiederholen.

Wie aber wählt Kempowski aus Tausenden von Tagebüchern, die erst einmal gelesen werden müssen, aus? Was ist die Struktur, die die gewaltigen Echolotbände im Innersten zusammenhält? Der Meister zitiert den verstorbenen Filmemacher Fechner: „Ich bin der Schnitt“, soll dieser gesagt haben, in der Einsicht, daß der Schneidetisch der wahre Entstehungsort des Filmes sei. „Das Collagieren ist mir die größte Befriedigung“, sagt Kempowski über den gegenwärtigen Arbeitsprozeß. Verständnis findet er damit eher bei Filmemachern als bei Schriftstellern. Erstes Organisationsprinzip ist die Chronologie der Ereignisse. Miteinander kombiniert werden Texte über Ereignisse, die an einem Tag und möglichst auch an einem Ort stattgefunden haben.

Da hat am 14. März 1945 jemand in einem Steinbruch gearbeitet, kam wegen Unterernährung ins Lazarett und hat darüber in sein Tagebuch geschrieben. Gleichzeitig wurde nicht weit entfernt ein Kind geboren. Wieder eine Krankenhaussituation, die damit einen Anschluß an den ersten Text schafft. „Es fügt sich wie beim Domino-Spiel“, erläutert Kempowski und stellt den Computer an. Dabei kehrt er bescheiden unter den Tisch, wieviel Sorgfalt und Gespür er in Wirklichkeit auf Merkmale wie etwa Musikalität bei der Auswahl der Fragmente legt.

Spürbar wird die kunstvolle Montage erst beim Lesen. Als im letzten Jahr zum 8. Mai diverse Lesungen das „Echolot“-Projekt vorstellten, war dies die Bewährungsprobe. Das Resultat: ein gebanntes Publikum, das auch bei den stundenlangen szenischen Lesungen bei der Stange blieb. Besonders die kleine und bescheidene Inszenierung im Bremer Jungen Theater traf den richtigen Ton. Die Regisseurin behielt die Collage der unterschiedlichsten Texte bei, setzte „KZ“ gegen „Schule“. Anders die große Berliner Aufführung: Hier hatten Schaubühnen-Schauspieler sich nur die grausigen KZ-Berichte herausgepickt und damit, nach Kempowskis Meinung, die Idee verraten. Eine weitere Erkenntnis nach der Veröffentlichung: Die dicken Bände finden durchaus ihre Leser. 25.000 Exemplare wurden bereits verkauft – und durchaus auch gelesen, wie Kempowski weiß.

Damit ist das Riesenwerk in eine neue Phase getreten. In einem zweiten, auf 16 Bände angelegten Text, soll das Jahr 1945 vollständig dokumentiert werden. Mittlerweile sind sieben Mitarbeiter in das Projekt integriert, recherchieren für Kempowski in aller Welt. Nun verknüpfen sich auch die Fragmente nicht mehr nur linear; durch Querverbindungen wird mit Fotos und Kommentartexten ein Gewebe geschaffen. Ob er sich da nicht übernimmt? Ist das Arbeitvorhaben noch zu kontrollieren, wird er je fertig werden? „Benjamins Passagenwerk ist ja unvollendet, das soll mir nicht passieren“, sorgt sich der Autor und hat sich ein Ziel gesetzt. Bis zur Jahrtausendwende will er fertig sein. Und er liegt genau im Zeitplan. Vom zweiten Teil sind schon 112 Tage, also der Zeitraum vom 1.1. bis 14.3.1945 fertig montiert – auf bislang 12.000 Seiten. „Sonst wird das mein Grabstein.“ Schließlich ist die jahrelange ausschließliche Beschäftigung mit Berichten aus der Nazizeit nicht gerade erbaulich. „Seelisch trieft es gewaltig. Alle zwei Wochen drehe ich dann mal kurz durch. Aber dann geht es wieder.“

Susanne Raubold