Flickenteppich Identität

Sind die deutsch-türkischen Jugendlichen heute türkischer als ihre Großeltern? Um Positionsbestimmungen ging es bei einem Jugendfestival in Berlin  ■ Von Ralf Melzer

Ich war eine Quotentürkin in Buckow“, sagt Ipek und lacht munter. Viel zu lange, meint die heute 19jährige, habe sie als Kind ihre türkische Teilidentität verleugnet. Inzwischen ist das freilich anders geworden: Mit zwei Sprachen und zwei Kulturen wirklich vertraut zu sein empfindet sie nun als einen riesigen Vorteil, eine Chance.

Identität, Teilidentität, Suche nach Identität: Obwohl dieser deutsch-türkische Diskurs inzwischen schon arg strapaziert scheint, bestimmen doch die Fragen nach Identitätsauflösung und Identitätsbildung die Debatten der zweiten und dritten türkischen Generation in der Bundesrepublik. Zwar ist Deutschland „unverkennbar die Heimat unserer Kinder und Enkel geworden“, wie der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Professor Hakki Keskin, sagt. Zur Bilanz zählt aber auch, daß die Systemintegration noch immer nicht gelungen ist. Beispiele hierfür sind die Wahlrechts- und Staatsbürgerfrage sowie die offensichtlichen Probleme im Bildungsbereich, an den Schulen: Jeder dritte Schüler türkischer Herkunft schließt die Schule nicht ab, und der Abstand zu den „inländischen Schülern ist im Durchschnitt genauso groß wie vor zwanzig Jahren. „Unter dem Strich“, so die Schöneberger Ausländerbeauftragte Emine Demirbürken, „ist die Integration in das Bildungssystem gescheitert.“

„Wie auch immer sie sich verhielten, bekamen die Türken der zweiten Generation zu spüren, daß sie weiter als Fremde behandelt wurden“, meint Umran, eine Journalistin, die für verschiedene türkische Medien arbeitet. „Und langsam“, so fügt Umran hinzu, „verlieren sie die Geduld.“ Das Gefühl, daß Schritte hin zur deutschen Gesellschaft zurückgewiesen werden, konnte auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben. „Die dritte Generation gibt sich zum Teil türkischer als die erste“, sagt Umran. Diese Verhärtung, aber auch ein offenes Selbstbewußtsein haben beigetragen zur Etablierung einer spezifisch türkischen Berliner Jugendkultur mit eigenen festgefügten Strukturen, Ritualen und Verhaltensweisen. Türkische Rap-Bands wie „Cartel“ besingen den alltäglichen Rassismus. Transportiert wird aber auch ein „türkisches Bewußtsein“, die Besinnung auf nationale Kategorien.

Die multikulturelle Gesellschaft also doch nur ein multikulturelles Nebeneinander? „Wir haben kein wirkliches Ineinander erreicht, weil es an interkulturellen Strukturen mangelt“, meint Emine Demirbürken und spricht deshalb von einer „bikulturellen Gesellschaft“. In den „Nischen des Rückzuges“ liege sozialer Sprengstoff. Emine Demirbürken plädiert dafür, diese Nischenbildung ernst zu nehmen, aber auch nicht überzubewerten. Denn immerhin würden die meisten türkischen Jugendlichen auch das Interkulturelle leben.

Aus- und Abgrenzung gibt es immer dann, und zwar auf beiden Seiten, wenn Identitätsmerkmale oder die sogenannte „kulturelle Identität“ auf das Nationale reduziert werden, wenn also etwa das Türkische zur Schublade, zum schlichten Raster wird.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, der Versuch einer Selbstdefinition und Positionsbestimmung war denn auch ein wichtiger Aspekt beim ersten türkischen Jugendfestival, das im Mai vom „Türkischen Wissenschafts- und Technologiezentrum (BTBTM)“ ausgerichtet wurde. Die Veranstaltung war eine Initiative türkischer Schülerinnen und Schüler, die sich seit einigen Monaten regelmäßig beim BTBTM treffen und zu denen auch Ipek gehört. Ihr geht es insbesondere um den versteckten Rassismus, wie er auch in Medien, ob Fernsehen oder Printmedien, durch Reduzierung auf Klischees und Schlagworte transportiert wird.

Nurdan Kütük, die die Gruppe betreut, ist stolz darauf, daß „ihre“ Jugendlichen das Programm weitgehend selbst vorbereitet und eigenständig inhaltlich gestaltet haben. In Workshops und Diskussionen ging es zum Beispiel um mädchenspezifische Probleme, um die Definition von Rassismus, um Jugendpolitik unter dem Vorzeichen massiver Mittelkürzungen oder um das Problem der noch immer stark euro- und deutschlandzentristischen Lehrpläne an den deutschen Schulen.

Rückzug auf die eigene Identität oder Öffnung zur vielschichtigen, multikulturellen Gesellschaft? Für Ipek und die anderen aus der BTBTM-Gruppe ist die Antwort klar. Der logische Schritt, der auf die Beschäftigung mit der eigenen Identität folgen müsse, sei die Beschäftigung mit anderen Kulturen und Religionen.

Schließlich sind die Probleme ähnlich: „Wo gehören wir hin?“ Diese Frage stellen sich zum Beispiel auch viele deutsche Juden. Und die in Berlin lebenden Kinder jüdischer Emigranten aus Rußland wissen oft über ähnliche Diskriminierungserlebnisse zu berichten wie junge Deutschtürken. Die Tendenz zur Isolierung ist für Ipek ein Ausdruck von Selbstschutz. Dies sei zwar durchaus verständlich aber der falsche Weg. Im Gegenteil: „Andere Minderheiten in Deutschland könnten viel aus unseren Erfahrungen lernen.“

Was Ipek und andere Jugendliche interessiert, ist eine wirkliche Interaktion, „bei der die anderen so viel von mir lernen, wie ich von ihnen.“ In den Herbstferien will sie sich deshalb an einer Tagung zum Thema „Dialog der Religionen“ beteiligen, die von der jüdischen B'nai B'rith Youth Organization (B.B.Y.O.) organisiert wird.

Die Projektwoche ist Teil der von B.B.Y.O. getragenen Unite & Act-Jugendkampagne gegen Rassismus und Antisemitismus. Unite & Act gibt es seit drei Jahren, das Projekt versteht sich als ein für alle Interessierten offenes Forum interkulturellen Austauschs.

„Jugendliche unterschiedlicher religiöser und nationaler Herkunft kommen zusammen und engagieren sich für Toleranz.“ So beschreibt Jeffrey Drimmer, der Vorsitzende von B.B.Y.O. und Initiator des Projektes, die Idee von Unite & Act. Er, der gebürtige New Yorker, lebt seit über 25 Jahren in Berlin und sucht den Austausch vor allem mit den Türken. Daß aus der deutschen Geschichte gelernt wird, sei schließlich nicht nur für die Juden, sondern auch für die anderen hier lebenden Minderheiten wichtig.

Emine Demirbüken, die Schöneberger Ausländerbeauftragte, teilt diese Erwartungen in eine gemeinsame Diskussionskultur. In der heterogenen Gesellschaft, in der wir leben, sollten die Minderheiten aufeinander zugehen. „Und es ist gut, wenn dies heute gerade Jugendliche tun.“