Korrupte Nomenklatura

Mit Boris Jelzin steuere Rußland geradewegs in ein faschistoides System, behauptet sein Kritiker Belotserkowski. Stimmt dies? fragt  ■ Barbara Oertel

Einen Bericht über die Stimmung in Rußland vor den Präsidentenwahlen leitete Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert unlängst mit den Worten ein: „Die Russen haben am 16. Juni die Wahl: zurück zur Vergangenheit mit den Kommunisten oder für Reformen und die Zukunft unter Boris Jelzin.“ Mit diesem Statement befindet sich Wickert in bester Gesellschaft mit seinen Kollegen und den führenden Politikern der westlichen Welt. Denn Rußlands amtierender Präsident Boris Jelzin stand und steht für Reformen, so die einhellige Meinung. Auch der mörderische Tschetschenienkrieg hat dieses positive Bild nicht trüben können.

Wer aber genauer hinschaut, kann nicht übersehen, daß sich Jelzin schon längst von einem Reformkurs verabschiedet hat. Wadim Belotserkowski, russischer Publizist, aktiver Menschenrechtler und jahrelang im deutschen Exil bei verschiedenen Medien tätig, hat genau hingesehen. Unter dem Titel „Was geschieht mit Rußland?“ (in Zusammenarbeit mit Friedrich Hitzer) hat er jetzt eine kritische und materialreiche Analyse der Jelzin-Ära vorgelegt, in der auch andere russische Kritiker zu Wort kommen. Vor allem für den westlichen Leser enthält sie viele, bislang wenig beachtete Aspekte, die die Entwicklung in Rußland und auch mögliche Zukunftsperspektiven in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Belotserkowskis Thesen sind hart: Unter dem Deckmantel von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit steuere Rußland geradewegs auf ein „faschistoides“ System zu. Die korrupte Nomenklatura, verfilzt mit der Mafia, sei bereit, um des Machterhaltes willen, wie im Falle Tschetscheniens, über Leichen zu gehen. Und das alles um den Preis einer Verelendung großer Teile der russischen Bevölkerung und eines fortschreitenden Niederganges der Wirtschaft.

Diese Entwicklung habe sich schon lange abgezeichnet. August 1991: Heldenhaft erklimmt Boris Jelzin einen Panzer vor dem Weißen Haus, um die „Demokratie“ zu verteidigen. In Wahrheit siegte an diesem Tag aber nicht die russische Demokratie, sondern die Nomenklatura, die im Fall einer Restauration ihre Privilegien eingebüßt hätte. Was der gepriesene Jelzin unter Demokratie verstehe, sei gleich nach dem gescheiterten Putsch deutlich geworden: Die Anklage gegen die Putschisten verlief im Sande, der KGB blieb bestehen, leitende Kader blieben weiter im Amt. Im Dezember 1991 löste Jelzin dann mit den Staatschefs Weißrußlands und der Ukraine im Alleingang die Sowjetunion auf und wußte sich dabei auch diesmal ganz im Einklang mit der Nomenklatura, die im Koloß UdSSR weitergehende Destabilisierungen befürchtete. Dieser Schritt war illegal, betont Belotserkowski, denn vorher hatte sich in einem Referendum die Mehrheit der Russen für den Erhalt der UdSSR ausgesprochen.

Zweites Beispiel, Oktober 1993: Jelzin läßt das rechtmäßig gewählte russische Parlament zusammenschießen. Nach der offiziellen Version, die von westlichen Medien verbreitet wird, verteidigte der Präsident wiederum die Demokratie gegen putschlüsterne „rot-braune“ Abgeordnete. Auch zu dieser wenig rühmlichen Episode der jüngsten russischen Geschichte liefert Belotserkowski aufschlußreiche Zusatzinformationen.

Mit seinem Ukas über die Auflösung des Parlaments vom 21. September 1993 habe Jelzin seinen Angriff auf das Parlament begonnen. Mehrmals forderte er öffentlich dazu auf, „das Parlament zu verjagen“. Ein glatter Verfassungsbruch. Flankiert wurde dieser Feldzug von einer Hetzkampagne gegen die Abgeordneten, an der sich auch viele Intellektuelle beteiligt haben. Ein negatives Votum gegen den geplanten Coup sowie einen Kompromißvorschlag des Verfassungsgerichts – eine Institution, die in der Folgezeit vollständig entmachtet wird – ignorierte Jelzin.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt, so Belotserkowskis Fazit, konnte von einer Demokratie keine Rede mehr mehr sein. Das Parlament sei seitdem geknebelt, die Presse zunehmendem Druck ausgesetzt. Entscheidungen werden in der Administration des Präsidenten getroffen. Die Regierung, vom Präsidenten abhängig, wurde in die Statistenrolle verwiesen. Die „liberaldemokratische Partei“, vom KGB lanciert, erfüllte vor den Wahlen Ende 1993 trefflich die ihr zugedachte Aufgabe: Der offene Rassismus und Chauvinismus ihres Führers Wladimir Schirinowski führte zwangsläufig dazu, Jelzin weiter als die bessere Alternative erscheinen zu lassen. Die Parallelen zu den Dumawahlen vom Dezember 1995 und auch zu den Präsidentenwahlen am kommenden Wochenende sind unverkennbar. Wieder wird mit dem Aufkommen der Kommunisten und Nationalisten Stimmung gemacht.

Parallel zu dem autoritären Kurs in der Politik baute die Nomenklatura, so der Autor, ihre alles beherrschende Position in der Wirtschaft immer weiter aus. Bei den sogenannten Reformen ab 1992 mit Preisfreigabe, Privatisierung und gnadenloser Austeritätspolitik habe die Bevölkerung nichts gewonnen, die Nomenklatura alles. Die Folgen: massiver Produktionsrückgang, wachsende Arbeitslosigkeit, galoppierende Inflation und Verelendung großer Teile der Bevölkerung. Sie erhält monatelang keine Löhne, weil die Gelder von der Nomenklatura zu Spekulationszwecken zurückbehalten werden.

Die Analysen sind schlüssig, das Schreckensszenario ist klar gegliedert. Folgerichtig ist deshalb, daß Belotserkowski in den bevorstehenden Wahlen keine historische Entscheidung über das weitere Schicksal Rußlands zu sehen vermag: „Weder Wahlen noch Wachablösungen im Kreml werden das bestehende System ändern, da alle agierenden Parteien und Blöcke dem System und der Nomenklatura zuarbeiten.“

Trotz dieser wenig ermutigenden Beurteilung scheint Belotserkowski die Hoffnung auf Veränderungen nicht aufgegeben zu haben. Welche Möglichkeiten es allerdings gibt, das System aufzubrechen, und welche Rolle dabei die Intelligenzija spielen könnte, von deren Vertretern Belotserkowski ja selbst eine ganze Reihe zitiert – auf diese Frage bleibt der Autor die Antwort schuldig. Auch wenn richtig ist, daß große Teile der Opposition mit der Nomenklatura verzahnt sind, hätte der Analyse gerade in dieser Frage eine differenziertere Betrachtung gutgetan. Das gleiche gilt für die sich entwickelnde Zivilgesellschaft mit ihren NGOs. Denn sie könnten zum Motor für eine solche Entwicklung werden. Aber darüber kein Wort.

Allerdings beläßt es der Autor nicht bei einer Sezierung des Schwerkranken, sondern bietet eine Alternative an: das Modell einer „Synthese“, das heißt eine Gesellschaft der Selbstverwaltung und des Gemeineigentums der Belegschaften. „Ich sehe keine andere Alternative. Nur auf diesem Weg könnte Rußland zu einem demokratischen, stabilen und für die Welt ungefährlichen Staat werden.“ Diese Konzeption hatte bereits die 1990 gegründete Union der Arbeitskollektive durchzusetzen versucht. Massivem Druck ausgesetzt, verschwand diese Bewegung 1993 von der politischen Szene. Jetzt hat der Präsidentschaftskandidat Swatoslaw Fjodorow dieses Modell zu seinem Programm gemacht. Nach Lage der Dinge hat Fjodorow aber kaum eine Chance, in den Kreml einzuziehen.

Wadim Belotserkowski (mit Fiedrich Hitzer): „Was geschieht mit Rußland? Demokraten gegen Kremldiktatur, Krieg und Chaos“. Gustav Lübbe Vlg. Bergisch Gladbach 1996, 318 Seiten, 42 DM