Der Glaube an die eigene Kraft

In Iwanowo, einstige Textilhochburg Rußlands, herrscht wirtschaftlicher Notstand. Obwohl viele von Jelzin enttäuscht sind, können die Kommunisten aus der Misere kein Kapital schlagen  ■ Aus Iwanowo Klaus-Helge Donath

„Pensionäre und die Generation im fortgeschrittenen Alter entscheiden jetzt alles für uns. Sie wählen, wie es ihnen in den Kram paßt. Uns fragt keiner!“ klagt ein Schüler. „Demokratische Grundrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit und all die anderen Rechte sind mir wichtig“, schreibt der 16jährige in einer Umfrage, die das Hausblatt der rotbraunen Opposition in Moskau, Sowjetskaja Rossija, anläßlich der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Iwanowo durchführte. Nicht zufällig wählte sie dafür die Gebietshauptstadt, 300 Kilometer nordöstlich von Moskau, um ein besonders düsteres Stimmungsbild zu malen.

Das Regionalparlament richtete vor wenigen Wochen einen Hilferuf an Moskau mit der Bitte, das gesamte Verwaltungsgebiet zur „wirtschaftlichen Notstandszone“ zu erklären. Der Kreml ging auf den Wunsch nicht ein. Hätte es sich rumgesprochen, wäre der Beweis des Versagens aktenkundig.

Iwanowo kämpft. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei 13 Prozent. Doch Leonid Iwanow aus der Abteilung „Wirtschaft und Unternehmen“ in der Administration räumt ein: „Verdeckt sind es mindestens 20.“ Eine Reihe Großbetriebe hat auf Kurzarbeit umgestellt.

Unter den Kommunisten mußte die Stadt nicht darben. Im europäischen Teil Rußlands war sie das Zentrum der Textilindustrie. Der bullige Kranwagen „Iwanowez“ mit dem orangefarbenen Arm leuchtete früher noch im letzten Winkel der Sowjetunion. Gigantischen Maschinenbaufabriken wie „Iwanomasch“ und „Awtokran“ fehlen heute die Aufträge. Die Bürger rächten sich bei den Parlamentswahlen im Dezember. Die Kommunisten erhielten die meisten Stimmen, dicht gefolgt von der Liberaldemokratischen Partei (LDPR) des Chauvinisten Wladimir Schirinowski. Beide Parteien residieren am Platz der Revolution. Die LDPR weist auf sich mit einer dunkelroten Tafel in Goldlettern hin. Gewöhnlich bleibt das staatlichen Institutionen vorbehalten. Doch die Kommunisten stehen nicht nach. Für sie wirbt Lenin vertikal über die ganze Fassade schon seit Jahren und preist „Unbeugsamkeit und revolutionäre Entschlossenheit des Proletariats von Petersburg, Moskau und Iwanowo...“. Derlei liebevolle und filigrane Arbeit findet sich selten in der russischen Provinz. Für die kommunistische Geschichtsschreibung verkörpert Iwanowo denn auch heute noch mehr als nur eine beliebige Industriestadt.

Viel ist vom Reichtum der einstigen Textilhochburg nicht erhalten geblieben. Wenige Meter vom Zentrum gleichen die Straßen Ackerfurchen, Asphaltplatten schieben sich wie Eisschollen übereinander, Krater trennen einen Häuserblock vom nächsten. Ganze Stadtviertel haben nie eine Asphaltdecke gesehen. Eine Heißwasserleitung ist leck, aus ihr entweicht zischend ein dampfender Strahl. Drum herum haben die Bewohner Sand abgetragen. „Um mit dem Wagen dichter heranfahren zu können“, erklärt einer. Sie waschen Ihre Autos hier. Läßt sich das Leck nicht abdichten? „Warum? Wir haben uns dran gewöhnt. Gibt ja sonst keinen Platz zum Wagenwaschen!“ verteidigt der Wäscher. Dieser Logik etwas entgegenzuhalten schlägt fehl, weil ihr Praxisbezug jeden Einwand entkräftet. Ein Gemisch aus sowjetischer Mangellogik und russischer Mentalität. Improvisationstalent und quälende Beharrungskräfte ergänzen einander.

Auf dem Markt bieten Händler Waren aus aller Herren Länder feil, russische Erzeugnisse sind kaum dabei. Larissa arbeitete früher in einer Textilfabrik. Jetzt verkauft sie Kleider und Schuhe, Herkunftsland Türkei. Findet sie es nicht eigenartig, aus dem Ausland Kleider ins größte Textilgebiet zu schaffen? „Natürlich, traurig!“ Nur seien die heimischen Hersteller zu unbeweglich, um sich an der Nachfrage zu orientieren. Lebte Larissa früher besser, wie es Nostalgiker und kommunistische Mär behaupten? „Geld reichte damals vorn und hinten nicht, am Wochenende fuhren wir nach Moskau, um in der Metro Bettwäsche aus unserer Fabrik zu verkaufen“, erzählt sie. „Nur damals ging es fast allen dreckig.“ Das sei der Grund, warum sich viele an die alte Zeit wehmütig erinnern. Für wen wird sie stimmen? „Auf keinen Fall die Kommunisten.“ Und Jelzin? Sie zieht die Augenbrauen hoch und atmet kräftig: „Mir ist nicht wohl dabei, aber...“

Eine typische Reaktion jener Menschen, die das Alte nicht zurücksehnen, von Jelzin indes enttäuscht sind. Aber sie gehören zu den Gewinnern des Wandels, sind aktiv, selbständig und von ihrer Leistungsfähigkeit überzeugt. Einem Kandidaten, der billiges Brot und reichlich Wodka verspricht im Tausch gegen individuelle Freiheiten, gehen sie nicht mehr auf den Leim. Wen werden sie stützen, sollte es im ersten Wahlgang Spitz auf Knopf stehen? Eine bange Frage, die das Wahlkampfteam des Präsidenten zu ungeahnten Aktivitäten antreibt.

„Unsere Liebe zum Vaterland steht auf dem Prüfstand“ wandte sich Jelzin zwei Wochen vor dem Stichtag in einem „Aufruf an die Bürger des Gebietes von Iwanowo“. In der Eingangshalle des Textilkombinats „8. März“ hängt er aus. Die Arbeiter werfen flüchtig einen Blick, ohne stehenzubleiben. Offizielle Agitation sprach sie nie an. Werksmeister Alexander Bibikow meint, seine Arbeiter hätten sich längst entschieden. Nur Chauvinist Schirinowski träfe ihre Stimmung. Er selbst will erst nicht so recht mit der Sprache raus: Wahrscheinlich Grigori Jawlinski von der liberalen Partei Jabloko.

Die letzten fünf Jahre haben mich vieles gelehrt, vor allem, Reformen nicht um jeden Preis durchzusetzen“, so Jelzin selbstkritisch. Daher habe er „die Strategie der Reform wesentlich korrigiert“. Kurzum, von nun an wird er auf die Sozialverträglichkeit achten. Doch zuvor half er den Bürgern, sich zu erinnern. Waren nicht sie es, die damals den Verkehr lahmlegten, um die alte siechende Macht zur Herausgabe von Zucker auf Bezugsschein zu zwingen? Jelzin hält Balance, biedert sich nicht an. Die Schwierigkeiten der Region seien nicht allein ökonomischer Natur: „Seit mehr als siebzig Jahren wurde in Iwanowo ein eigentümliches kommunistisches Naturschutzgebiet geschaffen...“ Wer mit der Bahn anreist, dem teilt es sich sofort mit: „Iwanowo – Heimat des ersten Arbeiterrates“. Hervorgegangen aus dem Generalstreik im Jahr 1905. Darauf spielt der Präsident an.

Sonnabend, Schirinowskis Büro und das der Kommunisten ist verschlossen, als wären sie sich ihres Sieges schon sicher. Nur bei „Jelzins“ herrscht Hochbetrieb. Der Stab sitzt im Kulturzentrum „Graf Scheremetjewo“, das sich in der Technischen Hochschule eingemietet hat. Ein langer Seminarraum muß genügen.

Draußen wirbt ein Spruchband „Boris, Boris...“ – im Russischen ein Wortspiel – „Kämpf Boris, Volk und Gott helfen“. Das Pathos wirkt ein wenig fehl am Platze. Nikolai Lobajew begreift es indes als eine Herausforderung. Jelzin ernannte ihn zu seinem Vertrauten in der Region. Die Wahl fiel nicht zufällig auf den 42jährigen, Lobajew ist einer der erfolgreichsten Geschäftsleute, der über ein Imperium mit 8.100 Angestellten gebietet. Käse, Margarine, Butter und Speiseöl aus seinen Fabriken sind überall zu haben, wo sonst Waren aus dem Westen das Angebot beherrschen. Er verkörpert genau den Typ, den die Kommunisten in Rußland nicht dingfest machen konnten: den „vaterländischen Produzenten“.

Jeden Tag geht es hinaus in die Provinz. Immer mit dabei sind Natalja, eine resolute Organisatorin und Sergej, der für die politisch didaktische Unterweisung zuständig ist. Lobajew ist kein Mann der Theorie, gerade darin liegt seine Überzeugungskraft. Nach zwei Stunden Fahrt über holprige Pisten und verwunschene Dörfer ist das erste Ziel erreicht. Vor dem Kulturhaus in Pestjaki warten die örtlichen Würdenträger. Im fast vollbesetzten Saal sorgt ein Schlagersternchen für Stimmung. Lobajew erzählt von sich und seiner Arbeit, die Gemeinde bleibt mucksmäuschenstill. Raunen erhebt sich, sobald er seine Motive erläutert, warum er für Jelzin eintritt: „Reformen muß der zu Ende führen, der sie begonnen hat.“ Besonders vorne rechts im Saal wird es laut. „Reformen“ – welche? Die einen bereichern sich, und wir müssen mit niedrigen Renten leben!“ schreit eine alte Frau. „Warum tut Moskau nichts für uns?!“ brüllt ihr Nebenmann. Die Frage wird hinten aus dem Saal beantwortet: „Verlangt nicht immer von anderen, daß sie etwas für euch tun. Selbst anpacken!“ Beifall erhebt sich, der Saal lebt. Lobajew hat Mühe, sich einzuschalten. Die aktive Gruppe vorne rechts sind die alten Kommunisten, die sich gut präpariert haben. Einer von ihnen reicht einen Zettel mit Fragen zu Lobajew aufs Podium. Beifall für den Gast und Buhrufe für die alte Garde bedeuten keineswegs Unterstützung Präsident Jelzins. Leise beklagt sich die Dorfschullehrerin: „Meine Tochter hat morgen Prüfung, ich hab' ihr zwei Würstchen gekauft, für die ganze Familie reicht das Geld nicht.“ Sie hat sich noch nicht entschieden, auf keinen Fall aber wird sie für die Kommunisten stimmen. Die eigentliche Konfliktlinie zeichnet sich immer deutlicher ab. Zwischen den Funktionären und Schlüsselfiguren im Verteilungssystem, die früher wie Maden im Speck lebten, und jenen, die heute wie damals zu kämpfen haben. Lobajew nimmt einen neuen Anlauf: Er zahle seinen Arbeitern 1,2 Millionen Rubel Lohn, außerdem investiere er eine Menge Geld, um die sozialen Einrichtungen des Betriebes zu erhalten. Schlagartig wird es ruhig. Von so einem Lohn können die meisten nur träumen, er übersteigt das Durchschnittseinkommen in Iwanowo um das Dreifache. „Bei mir wird aber gearbeitet, und deswegen hat unser Unternehmen Erfolg“, setzt er nach. Wie bestellt bricht Empörung los. Mehrere springen auf und fuchteln mit ihren Fäusten. „Wir haben auch gearbeitet...“ Der Provakateur, der früher in seinem Betrieb als Ingenieur und Elektriker tätig war, bevor ihn die Belegschaft 1986 zum Direktor wählte, meint ruhig: „Mir braucht keiner weiszumachen, wie wir gearbeitet haben. Morgens wurde geklaut, was nicht niet- und nagelfest war, und danach gesoffen.“ Der Protest ebbt ab, denn hier spricht einer ihre Sprache. Dann bringt jemand heraus, was den meisten auf den Lippen liegt: „Nehmen Sie uns in Ihren Betrieb!“ Nach der Veranstaltung schleichen Jugendliche draußen um Lobajew herum. Schüchtern rücken sie mit ihrem Anliegen heraus, ob sie nicht beim Wahlkampf helfen könnten? Rein zufällig heißt sein Betrieb „Kumir“ – Abgott –, den Namen gab ihm noch die alte Macht.

Jelzins Vertrauter sprüht am Abend voller Optimismus. Die Mehrheit der Besucher, mutmaßt er, hätten ihre Wahl noch nicht getroffen, die Hälfte davon würden nun für Jelzin votieren. Er ist davon überzeugt, daß der Präsident die absolute Mehrheit schon im ersten Wahlgang schafft. Tatsächlich prescht Jelzin in allen Umfragen nach vorn, während der Stern des kommunistischen Widersachers, Gennadi Sjuganow, sinkt. Die Propagandaschlacht der Präsidentenriege scheint zu verfangen: Wer nicht für mich ist, will zurück in die Vergangenheit. Zum erstenmal wählt Rußland nicht zwischen Persönlichkeiten, sondern einen Weg, den es beschreiten will. Jelzin ist nur noch ein Symbol.

„Ich bin von meiner Zukunft noch nicht überzeugt, trotzdem unternehme ich alles, um meine Pläne und Träume in die Tat umzusetzen“, schreibt Schülerin Natascha „Ich möchte glücklich sein, auch wenn ich in Rußland lebe...“

Die Sowjetskaja Rossija konnte mit den Antworten der Jugend nichts anfangen. Eine Lokalzeitung veröffentlichte sie schließlich.