Die riesigen toten Flächen im niedersächsischen Wattenmeer gibt's nur im Radio. Das zumindest meinen Gastronomen und Campingbetreiber an der Küste. WattführerInnen sind mit der immer dünner werdenden Sauerstoffschicht im Watt längst vertrau

Die riesigen toten Flächen im niedersächsischen Wattenmeer gibt's nur im Radio. Das zumindest meinen Gastronomen und Campingbetreiber an der Küste. WattführerInnen sind mit der immer dünner werdenden Sauerstoffschicht im Watt längst vertraut. Doch der alarmierende Bericht aus dem Umweltministerium in Hannover schockiert auch sie.

Todeskampf im Watt

Im Campingbüro von Harlesiel läuft der Fernseher: Bulgarien – Spanien. Kaum ein Muckser ist zu hören auf dem mit Zelten und Wohnmobilen gefüllten Platz. An der Küste hinter den Inseln Spiekeroog und Wangerooge nieselt es – für EM-Übertragungen genau das richtige Wetter. Nur langsam schiebt sich ein Mann hinter den Anmeldetresen. Nein, die schwarzen Flecken habe hier noch niemand gesehen. Im Radio werde zwar viel davon geredet, aber das sei schließlich bei Ölpest, Vogelsterben und Algenblüte auch so gewesen. Da gerade Halbzeit ist, erzählt der Schnauzbärtige schnell noch, wo er persönlich das zentrale Problem ausgemacht hat: „Immer zu Sommerbeginn kommen diese Katastrophenmeldungen auf. Das ist eine Kampagne aus dem Süden, die sind nur neidisch, daß so viele Leute an die Nordsee kommen.“

Beim Strandspaziergang sieht das, was vom Watt vor dem abendlichen Hochwasser noch zu sehen ist, gar nicht verseucht aus. „Die schwarzen Flecken, die sind woanders“, gibt sich ein braungebranntes Rentnerpaar überzeugt. Seit 20 Jahren haben Linde und Uwe Främcke schon ihren Wohnwagen in Harlesiel stehen, und auch dieses Jahr sei man schon im Watt gewesen. Und das sei so wie immer. Die beiden agilen Campingtouristen haben, was die Problemlage an der friesischen Küste betrifft, ebenfalls eine eigene Erklärung parat: „Abfälle und sogar Glas schmeißen die Leute ins Watt, das ist wirklich gefährlich.“

Auch im Restaurant „Wattkieker“ gibt man sich so unbeschwert, wie es die himmelblauen Gardinen vermuten lassen. Und auf der eben von einer Fahrt zu den Sandbänken zurückgekehrten MS „Jens Albrecht III“ will man erst recht nichts von vergammelten Fladen im Watt gesehen haben. Einzig Stefan Kettlitz nimmt den schwarzen Löchern ein wenig von ihrer etwas surrealen Aura: „Als wir heute am Watt langgesegelt sind, haben wir so schwarze Flatschen geseh'n und haben gedacht, daß da wohl mehrere Leute ihre Bordtoilette ausgekippt haben“, erzählt der Mann im Hafen von Harlesiel.

Ulrich Kunth beschreibt die schwarzen Flecken differenzierter. „Das sind so handtellergroße dunkle Verfärbungen, die an manchen Stellen geballt auftreten. Überzogen sind die Flecken mit einem weißlichen Film von Schwefelausblühungen“, faßt der staatlich geprüfte Wattführer seine Beobachtungen der letzten Tage zusammen. Ulrich Kunth ist 57 Jahre alt und schon Wattführer gewesen, lange bevor es in Harlesiel mit Sonnenenergie betriebene Parkscheinautomaten gab und auch lange bevor die Küste, an der er geboren wurde, zum Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ deklariert wurde.

Der Geographie- und Geschichtslehrer betont, kein „Grüner“ und dennoch sehr besorgt zu sein. „Früher hat man auf einer Wanderung höchstens drei oder vier tote Wattwürmer gefunden. Heute hätte ich an bestimmten Stellen über tausend auszählen können.“ Ulrich Kunth und seine Frau Eiltraut – ebenfalls Wattführerin und Geographin – sind bereits seit Jahren mit der Problematik der immer dünner werdenden Sauerstoffschicht über der schwarzen, reduzierten Sedimentschicht des Watts vertraut. Daß die sauerstoffreiche Biomasse, aus der auch die Wattwürmer ihre Nahrung beziehen, so dünn ist wie jetzt und sich sogar an manchen Stellen mit der Gummistiefelspitze wegschieben läßt, ist jedoch für die engagierten Dorumer eine neue, „sehr besorgniserregende“ Erfahrung.

Besonders beschäftigt die beiden Wattkenner eine Detailbeobachtung. „Hinter den toten Würmern haben wir zentimeterlange, gewundene Spuren entdeckt. Ob das vom Todeskampf auf der Suche nach Sauerstoff kommt, wissen wir nicht, schließlich gibt es über Wattwürmer ja noch keine Dissertationen“, benennt Ulrich Kunth nur eine der vielen ungeklärten Fragen rund ums Wattenmeer.

Warum das Watt gerade jetzt kollabiert, wissen auch die Kunths nicht eindeutig zu sagen. „Auf jeden Fall wird hier viel zuviel gedüngt, und ein großer Teil der Gülle landet in den Gräben, die ins Meer fließen“, so Kunth verärgert. Die Wahrscheinlichkeit, daß Giftstoffe schuld sind an der übermäßigen Verwesung im Watt, belegt der Studienrat anhand eines historischen Beispiels: „Der Mörtel für die Backsteine der Kirchen in dieser Region wurde im 13. Jahrhundert aus zermahlenen Herzmuschelschalen und Eiweiß gefertigt. Doch nicht einmal das dafür nötige massenhafte Abfischen hat damals zum Aussterben der Muscheln geführt.“

„Ich habe das ganze Jahr noch keine Herzmuscheln gesehen“, stellt auch Annett Glaschik fest und nimmt diese Beobachtung als Beleg dafür, daß sich bereits vor der jetzigen Misere im Watt etwas verändert haben muß. Annett Glaschik ist Biologin und führt im Auftrag des „Nationalpark-Haus Carolinensiel“ Menschen durchs Watt. In der Zweigstelle des vor zehn Jahren gegründeten Nationalparks „Niedersächsisches Wattenmeer“ hat man sich auf die vielen „schwarzen Flecken auf der sonst reinen Weste“ (Info der Ökosystemforschung Niedersächsisches Wattenmeer) noch nicht so recht eingestellt. Christine Janßen, die Leiterin der Ökoinformationsstelle, war schon beunruhigt, als vor zwei Tagen das Fax vom Umweltministerium kam. „Beunruhigte Nachfragen gab es aber von den Gästen bisher noch gar nicht“, konstatiert die Frau im Hosenrock doch ein wenig verwundert. „Kein Wunder“, weiß ihre Kollegin Annett Glaschik, „schließlich sieht man die Flecken, die für Laien als so ungewöhnliche gar nicht zu erkennen sind, auch erst auf halbem Weg zu den Inseln – und soweit kommen die meisten Touristen überhaupt nicht.“ Und es ist wenig wahrscheinlich, daß sich daran während der EM etwas ändert. Claudia Thomsen, Harlesiel