Freiheitskampf in „Fernwest“

In Chinas nordwestlichster Provinz Xinjiang rührt sich Widerstand gegen die Präsenz der Chinesen. Die Führung in Peking schlägt brutal zurück  ■ Von Thomas Ruttig

Die Tibeter haben den Dalai Lama, die chinesischen Demokraten das Fanal vom Tiananmen- Platz. Dem Widerstand der 7,2 Millionen Uighuren und 1,1 Millionen Kasachen in Xinjiang gegen die chinesische Besetzung fehlt Medienwirksamkeit. Ende letzten Jahres starb auch der über 90jährige Nestor der Unabhängigkeitsbewegung, Isa Jussuf Alptekin, in seinem Exil in Istanbul. So dringen nur selten Nachrichten aus der 1,6 Millionen Quadratkilometer großen Autonomen Region mit ihren überwiegend muslimischen Einwohnern, die 1933/34 und 1944–49 kurzzeitig unabhängig war.

Aber die Lage ist äußerst prekär. Peking nutzt seinen „Fernen Westen“ als Atomtestgelände, Rohstoff- und Sträflingskolonie. Offiziell leben dort bereits 38 Prozent Han-Chinesen – die größte Bevölkerungsgruppe der Volksrepublik . Dazu kommen Hunderttausende Wanderarbeiter mit Zeitverträgen und Soldaten, die nicht in die Statistik eingehen. Die Einheimischen werfen Peking vor, es wolle sie zur Minderheit im eigenen Land machen. Besonders in der Ölindustrie – in Xinjiang lagert ein Drittel der chinesischen Erdölvorräte – bekommen sie faktisch keine Arbeit. Auch die Gewinne aus der Förderung kämen der Provinz nicht zugute, beklagen sie. Erst letzten Samstag führte Peking einen Atombombenversuch durch – auf dem Testgelände von Lop Nor in der Wüste von Xinjiang.

Seit einigen Wochen berichten erstmals chinesische Zeitungen über Unruhen. In der offiziellen Xinjiang Ribao aus der Hauptstadt Urumtschi hieß es Ende Mai, „Spalter“ hätten seit Februar bei Anschlägen sechs oder sieben Menschen getötet. Unter den Opfern seien ein Berater der Regionalregierung und ein hoher regierungsnaher islamischer Geistlicher. Am 29. April starben in der etwa 500 Kilometer südwestlich von Urumtschi gelegenen Stadt Kutscha drei Männer, als ihre selbstgebastelten Bomben beim Transport hochgingen. Bei einem anschließenden Feuergefecht erschoß die Polizei sechs weitere, mit Gewehren bewaffnete Komplizen. Inzwischen kamen noch mehr Opfer hinzu. Das prominenteste ist laut der französischen Tageszeitung Libération der Imam der Hauptmoschee von Kaschgar.

Die chinesischen Behörden antworteten mit einer Verhaftungswelle. Nach amtlichen Angaben wurden 1.700 „Terroristen, Separatisten und Kriminelle“ festgesetzt. Ostturkestanische Exilkreise sprachen von 4.700 Festgenommenen.

Aber selbst in der KP scheinen ostturkestanische Unabhängigkeitskämpfer über Sympathisanten zu verfügen. So wird in einer Ende Mai bekanntgewordenen Anweisung aus Peking festgelegt, daß „Parteimitglieder und -funktionäre, die in politisch motivierte Bombenanschläge, Morde und andere gewaltsame terroristische Aktivitäten verwickelt sind, sofort ermittelt und mit der notwendigen Härte bestraft werden“ müssen. Der uighurische Parteichef der Region wurde durch einen Han-Chinesen abgelöst.

Nachschub bekommen die Aufständischen aus den benachbarten Krisenregionen. Viele Uighuren haben sich Muslim-Rebellen in Afghanistan und Kaschmir angeschlossen, und der grenzüberschreitende Waffenschmuggel auch aus Tadschikistan blüht. Dagegen geht Peking jetzt verstärkt vor. In Xinjiang soll ein „dichtes Netz“ bewaffneter Polizeieinheiten aufgebaut, die Mannschaftsstärke der „Schnellen Reaktionskräfte“ aufgestockt, die Grenzkontrollen verschärft, strategisch wichtige Einrichtungen bewacht und die „religiöse Erziehung verbessert“ werden. Arbeitskollektive wurden zu verstärkter Wachsamkeit aufgerufen.

Seit April hat die Volksrepublik dafür auch außenpolitisch den Rücken frei. Gleichzeitig mit einem Grenzvertrag unterzeichnete sie mit Rußland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan auch ein Abkommen über den gemeinsamen Kampf gegen „Separatisten, Fundamentalisten, Drogen- und Waffenschmuggler“. Besonders in Kasachstan und Kirgisistan hatten Uighurengruppen immer wieder Proteste gegen Peking organisiert.

Ostturkestanische Exilanten in Deutschland weisen darauf hin, daß nur ein Teil der Unabhängigkeitsbewegung auf bewaffnete Aktionen setzt. Die eher gemäßigte „Unabhängigkeitsorganisation Ostturkestans“ habe versichert, friedlich für „Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmung“ kämpfen zu wollen, berichtet Erkin Alptekin, Vorsitzender der „Ostturkestanischen Union in Europa“ (OUIE). Die Lage in der Region sei aber so unerträglich geworden, „daß bewaffneter Kampf gegen den Völkermord unvermeidlich werden kann“. Allerdings scheinen neue Gruppen wie die „Radikalnationale Partei“ und die „Lop-Nor-Tiger“, die möglicherweise für die jüngsten Attentate verantwortlich sind, gegenüber den traditionellen Untergrundgruppen im Aufwind zu sein.

Auch die OUIE setzt ausschließlich auf friedliche Mittel und verurteilt Terroranschläge ihrer Landsleute. Sie hat bereits vor Jahren mit Exilgruppen aus Tibet und der ebenfalls zu China gehörenden Inneren Mongolei ein Bündnis geschlossen. „Bewaffneter Kampf führt nur zur Vernichtung der Völker, denen er helfen soll“, meint Alptekin.

Kooperiert wird auch mit der chinesischen Demokratiebewegung. Laut Alptekin ist Unabhängigkeit zwar das „Hauptziel“, aber „wir sind nicht dagegen, dort schrittweise hinzukommen“. Die Trennung von China „können wir so machen wie die Tschechen und Slowaken“, meint er: „Friedlich.“