Wer rennt schon mit der Fischdose im Mund rum

■ Seit Jahren dokumentiert eine Zahnarztpraxis Fälle Amalgamgeschädigter

„Und was ist mit dem Hutmacher?“ fragte Alice. „Der ist das ganze Jahr verrückt! Oder glaubst du, einer, der nicht verrückt ist, kann so verrückte Dinger erfinden, die sich noch Verrücktere auf den Kopf setzen?“ Lewis Carrolls verrückter Hutmacher in „Alice im Wunderland“ entsprang im 19. Jahrhundert nicht allein seiner blühenden Phantasie. Hutmacher damals waren tatsächlich verrückt, weil sie mit quecksilberimprägniertem Filz arbeiteten. Doch daß Quecksilber ein Nervengift ist, fand man erst viel später raus. Und da wurde es schon längst als Zahnfüllmaterial benutzt. Vergessen sind die Wirkungen des Schwermetalls deshalb nicht.

Am östlichen Rande Berlins, Endstation Hönow, ist eine kleine ungewöhnliche Zahnarztpraxis entstanden, die seit 1992 gänzlich auf die Verwendung von Quecksilber verzichtet. PatientInnen werden in Zusammenarbeit mit anderen FachärztInnen ganzheitlich behandelt, wenn krankhafte Symptome auf eine Quecksilber- oder andere Stoffallergie hinweisen. Das Ungewöhnliche: die Arbeit in der Zahnarztpraxis teilen sich eine Zahnärztin und ein Diplomingenieur.

Jürgen Schulz, der Ingenieur, arbeitete zu DDR-Zeiten noch in der Elektro- und Nachrichtentechnik. Sein Schwerpunkt: die Korrosion speziell von Metallen und die aus ihrer Zersetzung folgenden Wirkungen. Mit seinem Fachwissen wertet er heute in der Praxis die fortlaufende Dokumentation von amalgamentsorgten PatientInnen, die Ergebnisse von Allergietests und Krankheitssymptomen aus. Von fast 200 Personen haben Jürgen Schulz und Waltraud Behnke, die Zahnärztin, mittlerweile Daten gesammelt. Knapp 40 von ihnen wiesen hohe Schadstoffbelastungen auf, die durch ihre Behandlung auf ein Minimum reduziert werden konnten. Die PatientInnen werden beim Allergie- und Urintest neben Quecksilber auch auf Kupfer und Zink geprüft und auch auf die Verträglichkeit der alternativen Füllstoffe. Jeder Zahnersatzstoff gilt Schulz und Behnke grundsätzlich als Fremdkörper, jeder Stoff korrodiere nun einmal.

Nach Auffassung von Schulz ist gerade Amalgam – eine Legierung aus 53 Prozent Quecksilber, 20 Prozent Silber, 16 Prozent Zinn sowie 10 Prozent Kupfer und/oder Zink – durchaus keine schwer zu knackende chemische Verbindung. Auf deutsch bedeute Legierung einfach Gemenge. Er glaubt auch nicht, daß die Hälfte der Quecksilberbelastung aus der Nahrung komme. „Wer rennt denn schon mit der Thunfischdose im Mund rum“, wehrt er sich gegen den vorgeschobenen, angeblich hohen Fischkonsum. Tatsächlich liegt nach WHO-Angaben die tägliche Aufnahme von Quecksilber durch Fisch bei 2,3 millionstel Gramm, die durchs Zahnamalgam hingegen bei 3,8 bis 21 millionstel Gramm pro Tag. Als unbedenklich werden bis zu 45 millionstel Gramm betrachtet.

Doch nach diesen Zahlen richten sich Schulz und Behnke nicht. „An jedem Zahn hängt ein ganzer Körper“, ist ihr Grundsatz, und deshalb ist vor allem das klinische Bild für jegliche Weiterbehandlung ausschlaggebend. „Das kann Migräne, Haarausfall, eine Magenstörung sein, oder daß das Poloch ständig juckt. Bis dahin geht das“, sagt Schulz.

Das Verschwinden der Krankheitsbilder mit der Entfernung der Amalgamplomben zeige in jedem Fall den entscheidenden Ursachenherd, meint Schulz und verweist auf die Ergebnisse ihrer Studie: Mehrere PatientInnen konnten regelrecht darauf warten, daß sich nach dem Herausnehmen der Amalgamfüllungen ihre gesundheitlichen Störungen besserten. Mittels eines Ausleitungstests mit DMPS, einer organischen Säure, die Schwermetalle bindet und über den Urin ausscheidet, konnten relativ hohe Quecksilberbelastungen festgestellt werden. Und diese standen in einem deutlichen Verhältnis zu den offensichtlichen Krankheitssymptomen.

„Alles wurde aus dem Verkehr gezogen, Quecksilbersalben gegen Syphilis, Planzenschutzmittel, Ohrentropfen, nur Amalgam nicht.“ Daß jetzt das Amalgam verharmlost wird, kann Schulz einfach nicht verstehen. „Wenn ich schon jeden Krümel in einem Abscheider auffangen muß, dann muß da doch was dran sein.“ Petra Welzel