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200.000 Mark Unterstützung fehlen: Das Internationale Institut für Traditionelle Musik in Berlin verabschiedet sich mit dem Klangfestival „Rituale“  ■ Von Frank Hilberg

Wenn von der Welt als globalem Dorf die Rede ist, so scheint zuerst der grenzenlose Fluß von schlechten Nachrichten gemeint zu sein (Mega-Dorftratsch), dann der scheinbar frei flottierende Strom von Waren und Kapital (Kuhhandel) und drittens die touristische Erreichbarkeit (Dorfrundgang). Folgerichtig zeichnet sich seit einiger Zeit ab, daß der Kontakt mit fremden Kulturen zu gnadenloser Homogenisierung führt. Der kleinste gemeinsame Unterschied wird vom Massengeschmack gebildet, und spült enorme Mengen an Fast food und Softdrinks in die neuen Märkte. Natürlich fließen auch Elemente kultureller Traditionen zurück. Doch was durch Medien und Kanäle gefiltert wird, läßt meist jede Ähnlichkeit mit der Quelle vermissen. Das ist offensichtlich beim Vergleich des Schlagers „Karneval in Rio“ mit der Sambamusik Brasiliens und ein wenig verborgener bei der Frage, was an eigenkünstlerischer Leistung der Minimal-Music etwa von Steve Reich übrig bleibt, wenn man die jahrhundertealte „Amadinda“-Musik aus Buganda abzieht.

1963 wurde in Berlin das Internationale Institut für Traditionelle Musik (IITM) durch Yehudi Menuhin, Alain Daniélou und andere gegründet. Ziel war es, außereuropäische Musik zu dokumentieren und zu veröffentlichen, für den Austausch von Wissenschaftlern und Künstlern zu sorgen sowie Vorträge und Aufführungen zu organisieren, um darzustellen, daß nicht alle Musik Pepsi ist. Feldforschung wurde betrieben, Symposien wurden ausgerichtet; man gab Fachbücher, eine internationale Zeitschrift und Unterrichtsmaterialien heraus und einen klingenden Weltatlas in Form mehrerer hundert Tonträger. Schließlich eine Unzahl an Konzerten und ein jährliches Festival.

Durch diese Arbeit wurde das Institut zu den Bodenbereitern des Ethnomusik-Booms, in dessen Folge Verlagsprogramme erweitert, Radioredaktionen gegründet und Veranstaltungshäuser wie das Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet wurden – verdienstvoll das alles, aber eben keine Wissenschaft. Das Institut wird nächstens schließen müssen.

Dabei ist es eine Rarität. Seit das Fach „Vergleichende Musikwissenschaft“ zur Jahrhundertwende von Moritz von Hornbostel, Carl Sachs et al. in Berlin „erfunden“ wurde, hat es beständig gegen die Zeit gekämpft, um das musikalische Erbe der Menschheit zu bewahren. Denn nächstens sterben nicht nur 200 Sprachen aus, sondern auch eine große Zahl der geschätzten 15.000 Musikkulturen, von denen bis heute gerade 3.000 erfaßt sind. Nach 1933 sorgte die Machtübernahme durch die Nazis für den Exodus der fähigsten Köpfe nach Amerika. Dann war lange Ruhe, und erst 1976 gab es in Deutschland wieder einen Lehrstuhl für Vergleichende Musikwissenschaft. Und heute, unter dem Zeichen der Internationalität, gibt es bundesweit nur an drei Universitäten je einen Lehrstuhl, zwei Museen mit Sammlungen und keine weitere Institution, die sich der außereuropäischen Kulturmusik widmen würde. Das Berliner Institut wurde im Zuge allgemeiner Sparmaßnahmen auf nunmehr acht Mitarbeiter zusammengeschrumpft. Um dabei noch sinnvoll arbeiten zu können, benötigt es eine Million Mark jährlich.

Der letzte Zuwendungsbescheid des Senators war in seiner Perfidie geradezu salomonisch: 835.000 Mark wurden bewilligt, allerdings nicht als Mittel zur Arbeit, sondern zur Abwicklung. Im März verkündete Radunski dann im Abgeordnetenhaus den Beschluß, das IITM zu „liquidieren“. Dazu fehlt zwar jede Rechtsgrundlage, doch eine Klage des Instituts beim Verwaltungsgericht wird wohl frühestens in zwei Jahren entschieden. Das Bundesinnenministerium hat die Hälfte der benötigten Summe übernommen, zweckbestimmte Gelder, mit denen das Land Berlin aber andere Haushaltslöcher stopfen wollte. Die Gelder sind erst einmal gesperrt worden. Auch hier stehen Rechtsstreitereien an, deren Urteil zu spät kommen könnte. Die Finanzlücke von 200.000 Mark wird dem Institut im Oktober den Garaus machen.

Zum Vergleich: Der Berliner Kulturetat umfaßt rund 1,1 Milliarden Mark, zu denen Fachleute noch 600 Millionen weitere Gelder hinzurechnen (etwa die Mittel der Stiftung der Klassenlotterie). Die dem IITB fehlende Summe macht also einen verschwindend geringen Anteil aus. Das hiesige Polizeiorchester bekommt übrigens jährlich vier Millionen Mark pünktlich überwiesen.

Deutliche politische Zeichen setzt die Tatsache, daß Unterhaltungstheater wie der Friedrichstadtpalast oder das Theater des Westens mit knapp 44 Millionen Mark jährlich subventioniert werden (damit würden sich 40 der in Frage stehenden Institute finanzieren lassen) – ein Betrag, der andernorts unter kommerzieller Regie als Gewinn eingefahren wird.

Wenn nicht noch das Wunder einer späten Einsicht geschieht, wird das heute beginnende 20. Festival Traditioneller Musik Jubiläum und Abgesang zugleich sein. Es steht unter dem Titel „Rituale“ und führt rituelle Musik aus Indonesien, Nepal, Japan und China vor. Zu den Raritäten gehören die nepalesischen tantrisch-buddhistischen Gesänge und Tänze, die einst der Geheimhaltung unterlagen und erst 1957 öffentlich aufgeführt wurden. Außerdem gibt es rituelle Musik der Minangkabau von der indonesischen Insel Sumatra. Dieses Volk ist durch einige Merkwürdigkeiten geprägt, denn es ist die wohl einzige matrilinear organisierte Gesellschaft, die zugleich islamisiert ist. Tanzen galt den Frauen als unschicklich, also steckten sie Männer in Frauenkleider und ließen sie auftreten. Allein den tänzerischen Kampfsport Pencak Silat übten sie und entwickelten daraus die dynamischen Choreographien von Angriffs- und Verteidigungsfiguren. Finanziert wird das Festival, dessen sechs Vorführungen immerhin eine komplette Szechuan-Oper umfassen, vom Auswärtigen Amt.

Die Schließung des Instituts ist kopflos, denn neben der soliden wissenschaftlichen Arbeit ist ein Netz internationaler Kooperationen entstanden, das hohe kulturelle Reputation im Ausland genießt. Vielleicht sind die Offiziellen der Kulturpolitik an anderen Völkern nicht interessiert. Vielleicht ist das nicht lustig oder unterhaltsam genug. Leider liefert das Institut keine Knallbonbons, denn die Schauplätze der Feldforschung sind abgelegen, am Amazonas etwa oder im Himalaya, und damit fern aller Medienpräsenz. Vielleicht steckt auch politisches Kalkül hinter der Entscheidung, und sie ist gefällt worden, weil der zu erwartende Protest gering veranschlagt wurde. Für diesen Fall sollten Sie dem Senator doch einmal Ihre Meinung schreiben! Hier die Adresse:

Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur

Herrn Peter Radunski

Brunnenstraße 188–190

10119 Berlin

Tel.: (030) 285 25 203/206

20. Festival Traditioneller Musik 1996: „Rituale“. Sechs Konzerte zwischen 13. und 23. Juni, jeweils 20 Uhr im Haus der Kulturen der Welt, Berlin