Russische Schwule und Lesben setzen bei den Wahlen auf Boris Jelzin

■ Ein Erlaß Jelzins ermöglichte den Homos ihr Coming-out. Bei einem Machtwechsel fürchten sie um die neuen Freiheiten

Moskau (taz) – Sechzig Jahre lang haben Lesben und Schwule in Rußland offiziell nicht existiert. Vor drei Jahren artikulierten sie sich erstmals als Interessengruppe auf einer Pressekonferenz in Moskau. Allerdings wehrte sich die Mehrheit von ihnen bislang gegen jeden Versuch, ihrer Bewegung ein politisches Etikett anzuhängen. Am Montag aber geschah, was niemand für möglich gehalten hätte: Eine Konferenz russischer Lesben und Schwuler überraschte die Welt mit einem politischen Manifest. 135 Homosexuelle aus ganz Rußland riefen die BürgerInnen ihres Landes dazu auf, keinesfalls den Kommunisten Gennadi Sjuganow zu wählen. Zwar verzichteten sie ihrerseits darauf, offen einen Kandidaten zu empfehlen. Aber Gespräche am Rande und ein Fragebogen brachten es an den Tag: 90 Prozent der TeilnehmerInnen unterstützen Boris Jelzin.

Tatsächlich war es der Präsident, der 1993 durch einen Ukas den berüchtigten Paragraphen 121/I außer Kraft setzte. Aufgrund dieses Gesetzes waren männliche Homosexuelle in Rußland verfolgt, in Straflager gesteckt und dort nicht selten zu Tode gequält worden. In den drei Jahren nach ihrer Legalisierung erlebten Rußlands Homos ein geradezu schwindelerregendes Coming-out. Einen Meilenstein bei ihrem Sprint in Richtung Selbstverwirklichung bildete Ende letzten Jahres die Gründung des Moskauer Aufklärungs- und Begegnungszentrums „Treugolnik“ (Dreieck). Wenn hier getanzt wird, erleben die Moskauer Homos Momente perfekten Glücks. Sie wissen aber nur zu gut, daß dieses Glück ihnen jederzeit wieder genommen werden kann.

„Immerhin läßt sich heute eine größere Toleranz gegenüber Homosexuellen in unserer Gesellschaft verzeichnen. Das ist für uns mit Jelzins Namen verbunden“, erklärte die Geschäftsführerin des Klubs „Dreieck“, Jewgenia Debrjanskaja. Daß diese Toleranz noch nicht in den Himmel wächst, hat mit zu der Entscheidung geführt, sich nicht laut für einen bestimmten Kandidaten auszusprechen. „Noch immer kann es einem Menschen in unserem Lande sehr schaden, wenn er mit uns assoziiert wird“, sagt Debrjanskaja und witzelt: „So gesehen hätten wir uns vielleicht wie ein Mann hinter Sjuganow stellen sollen.“ Statt dessen verständigten sich die einmal versammelten Lesben und Schwulen auf konkrete Schritte. Sie formulierten eine Petition an den Familiengesetzgebungsausschuß der Duma. Das Papier enthält Vorschläge für eine Besserstellung der PartnerInnen in homosexuellen Lebensgemeinschaften, vor allem beim Erbrecht und Sorgerecht für gemeinsam aufgezogene Kinder.

Daß der Präsidentschaftskandidat Wladimir Schirinowski bisweilen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen kokettiert, beeindruckt die russischen Homos wenig. Vor dem Kongreß fragten sie bei allen KandidatInnen an, ob sie bereit seien, für die Rechte sexueller Minderheiten einzutreten. „Außer Galina Starowojtowa hat keiner geantwortet“, berichtet Debrjanskaja. „Ich würde für Starowojtowa stimmen. Aber leider wurde sie nicht zugelassen. Also bleibt nur Jelzin. Zwar ist er nicht der ideale Präsident. Aber wenn ich sehe, wie die sogenannten patriotischen Kräfte mit ihren fanatisierten Anhängern jedes Wochenende ganze Sportstadien füllen, wird mir unheimlich. Angesichts dieser primitiven Gleichmacherei müssen wir russischen Lesben und Schwulen unsere Kräfte bündeln“. Barbara Kerneck