Forever gay und glücklich?

■ Die heterosexuelle Gefahr lauert immer und überall: Wieso, warum und mit wem werden Lesben und Schwule rückfällig? Von Silke Mertins

Alles fing damit an, daß Sabine aus meiner Lesbengruppe zu mir zog. Jetzt wird alles gut, dachte ich; die tückische heterosexuelle Welt ist draußen vor der WG-Tür. Kein böses Erwachen mehr morgens im Badezimmer. Nie wieder hochgeklappte Klodeckel. Und dann gab es plötzlich Klaus. Genauer gesagt: Klaus und Sabine. Das Schlimmste: Klaus ist so normal. Was, so grübelte ich, was hat Klaus, das wir Mädels Sabine nicht dreimal bieten könnten?

Die Frage mußte zunächst unbeantwortet verworfen werden. Von Verrat und Privilegien und spießig wollte Sabine nichts hören. Sie weigerte sich auch, zur psychologischen Beratung zu gehen. Ich entschloß mich zur interimen Toleranz. Sabine zog dann freiwillig aus.

Eine kleine, unrepräsentative Umfrage ergab allerdings Unerhörtes, wenn nicht gar Ungehöriges: Sabine ist kein Einzelfall. Auch mein schwuler Freund Kai weiß Kummervolles zu berichten. Seine Ex-Liebe Thomas hat gerade geheiratet. Es ist ein Jammer um den hübschen Thomas, klagt er. Was soll werden aus der gay nation, wenn die heterosexuelle Gefahr immer und überall lauert?

Nach lesbischwuler Auffassung kann das alles gar nicht wahr sein: Das Coming Out läuft in eine Richtung; ein „Way of no return“. Man kann doch nicht einfach die Spur wechseln und wenden. Freiwillig! Wo wir uns gerade erst aus den klebrigen Klauen der Zwangsheterosexualität befreit haben, und selbst viele Heten heutzutage einsehen, daß Männer und Frauen einfach nicht zueinander passen. Nach einem schwierigen, schmerzvollen und anstrengenden Coming Out – kurz: nachdem bereits das Wahre und Schöne kennen- und liebengelernt wurde – gehen Lesben und Schwule daher und bändeln mit jemand ungleichgeschlechtlichem an. Ja dürfen die das? Können die das wollen?

Fast niemand aus dem dazu befragten Bekannten- und FreundInnenkreis weiß nicht die eine oder andere kleine oder große Schreckensgeschichte zu berichten: Hat bei dem einen nur die Hetero-Affäre in die Beziehung gefunkt, trösten sich manche Gays zwischen zwei Beziehungen mit einem Techtel vom anderen Ufer („weil die einen emotional nicht so reinziehen“), sind die Dimensionen bei anderen schon weitaus bedrohlicher. Carlos zum Beispiel findet ganz toll, wie sensibel seine Neue mit seinem Schwulsein umgeht. Kathrin mußte erleben, wie sich ihre Liebste nach zehn Jahren zugunsten eines Typen trennte, ein Kind bekam und jetzt ordentlich kleinfamiliär lebt. Und auch prominente Beispiele heterosexueller Verirrung und Verwirrung – wie Anja Meulenbelt oder Harold Brodkey – können wenig Trost spenden.

Das allumfassende und unwiderlegbare Argument der Hinwendung zur Heterosexualität: Liebe. Was will man diesem klassischen Gefühl entgegenhalten? Sei doch vernünfti vielleicht? Oder: Wie willst du das deiner Mutter beibringen? Nicht zu vergessen: Das werden dir deine FreundInnen nie verzeihen.

Das tun sie meistens tatsächlich nicht. Weder die homosexuellen noch die heterosexuellen FreundInnen werden so ohne weiteres damit fertig, wenn sich jemand das Recht herausnimmt, die Liebesbeziehung unabhängig vom Geschlecht zu wählen. Ab sofort gehört sie oder er nicht mehr richtig zur Szene; als „Bi“ hat mensch sich für die Privilegien der Hetero-Welt entschieden. Oder, was noch schlimmer ist, leugnet seine „wahre“ homosexuelle Identität. Auch die „Schwulen-Mutti“ ist entsetzt. Für sie ist diese Freundschaft todchic, anders, aufregend, schillernd, Teil ihrer eigenen Identität, ohne sie zu bedrohen. Verliebt sich der schwule Freund in eine Frau, nimmt er auch ihr was weg. Jetzt hat sie einen stinknormalen Hetero-Freund. Gähn. Jetzt hat er eine Freundin und braucht sie nicht mehr. Angst. Eifersucht. Wut.

Für die verräterische Lesbe, die in die Fänge eines Mannes gerät, sind die lesbischen FreundInnen das größte Problem. Besonders wenn sie Feministinnen sind. Keine größere Sünde auf der Welt, als mit dem Patriarchat, dem Feind, der Wurzel allen Übels ins Bett zu gehen. Wieso sollte frau sich aus freien Stücken auf den privaten Geschlechterkampf einlassen? Sich unterdrücken, diskriminieren, ausbeuten lassen? Die Erklärung ist simpel. Sie war eben noch nicht richtig befreit, zieht die Anpassung an die gesellschaftlichen Normen (alle Frauen sind Lesben, außer denen, die es noch nicht wissen) vor, will die Vorzüge des Normalseins genießen. Feige. Schäbig. Unreif.

Inzwischen scheint das kategoriensprengende Liebesleben derart um sich zu greifen, daß es sogar eine Bezeichnung dafür gibt: Wechselnde Sexuelle Orientierung (WSO). In der Sexualwissenschaft, so ist aus dem neuen Buch des Hamburger Sexualwissenschaftlers Gunter Schmidt („Das Verschwinden der Sexualmoral“) zu erfahren, tobt ein Kampf um die Frage, ob Homo- oder Heterosexualität lebenslängliches Schicksal ist.

Schmidt selbst geißelt die „monosexuelle Verbissenheit“. Nie seien die Unterschiede zwischen Homo oder Hetero so aufgeblasen worden wie heute. Mit „Bi“ als Restkategorie. Verliebt sich ein Schwuler in eine Frau, eine Lesbe in einen Mann, lautet die bange Frage: Wer bin ich, in welche Schublade gehöre ich? War das homosexuelle Dasein ein Irrtum? „Reduziert auf diese Kategorien, stellt sich das Problem nur im Hinblick auf die richtige Definition“, sagt Schmidt. Mit der Erfindung der „homosexuellen Identität“ – als Gegenentwurf zur Homophobie – sind nach Schmidt die Vorlieben zu „ehernen Gesetzen“ erstarrt. Doch sexuelle Orientierung als lebenslänglich zu betrachten, als „schick- salsträchtig“, passe nicht in die Welt der Postmoderne, sei nichts als „eine Beschwörung der monosexuellen Ordnung“. Seine Prognose: Die festzementierten Kategorien werden sich ebenso auflösen wie es bei Geschlechterrollen bereits im Gange ist.

Bi-Schwul, Lesbisch-bi, multi-, poli- oder nonsexuell. Angesichts der angesagten Beliebigkeit der Sexualmoral fällt mir der in allen Lebens- und Liebeslagen anwendbare Rat meiner alten Freundin Cornelia wieder ein. Wenn man sich zur falschen Zeit oder am falschen Ort oder in das falsche Geschlecht verliebt: „Abwarten bis es vorbei ist.“