: Dem Bild ein Gesicht geben
■ Das Verborgene Museum zeigt Fotos von Ré Soupault
Auf dem Jahrmarkt von Buenos Aires zielte sie auf das Schwarze einer Zielscheibe: eine Fotokamera wurde ausgelöst. Als sich Ré Soupault dieses Selbstporträt 1944 im wahrsten Sinne des Wortes erschoß, hatte sie das Fotografieren längst aufgegeben. Krieg und Faschismus hatten sie und ihren Mann, den surrealistischen Schriftsteller und Journalisten Philippe Soupault, 1942 von Tunis auf den amerikanischen Kontinent fliehen lassen, ihre fotografische Ausrüstung mußte zurückbleiben. Die Arbeit mit der Kamera war Vergangenheit. Nach dem Krieg machte sie sich als Übersetzerin und Autorin einen Namen. Als Fotografin ist sie erst in den letzten Jahren (wieder)entdeckt worden.
Die Ausstellung „Photographien aus Paris 1934–1938“ zeigt Bilder aus ihrer Wahlheimat, Alltagsszenen aus dem Leben der französischen Hauptstadt: ein Hochzeitspaar beim Besteigen einer vieltürigen Karosse, Straßenmusikanten und -verkäufer, Kinder an der Seine und Besuchergruppen im Zoo, Cafés und Bahnhöfe, kommunistische Demonstrationen und das Schiff der Heilsarmee. Verschiedene Ausblicke vom Eiffelturm richten sich auf das im Bau befindliche Gelände der Weltausstellung von 1937.
Nichts Nostalgisches haftet diesen Aufnahmen an. Sie lassen Anteilnahme und Wachheit des fixierenden Auges noch jetzt spüren, als sei der festgehaltene Augenblick erst eben vergangen. Die Menschen wissen meist, daß sie fotografiert werden, aufmerksam oder zerstreut schauen sie in die Kamera. Man wähnt sich nicht beobachtet oder gestört, eher möchte man, unbewußt vielleicht, zum Gelingen der Aufnahme beitragen, in dem man kurz innehält, um dem Bild Gesicht zu geben, Individualität, etwas Unverwechselbares.
Zum einprägsamen Bild tragen auch Komposition, Ausschnitt und Standpunkt bei. Die im Pommerschen geborene Erna Niemeyer, die sich Ré Soupault nannte, war Anfang der zwanziger Jahre Bauhausschülerin in Dessau. Ihr Lehrer Johannes Itten, bei dem sie Vorkurse besuchte, habe sie das Sehen gelehrt, er „arbeitete gegen jedes Vorurteil“, meint sie, bestärkte die eigene Sicht des Fotografierenden. Ré Soupaults Blickwinkel ist der einer Zeitgenossin: genau, aber nicht streng, dem Augenblick verpflichtet, aber ohne Situationshascherei, einfühlsam und zugleich distanziert. Im März diesen Jahres starb Ré Soupault im Alter von 94 Jahren. Michael Nungesser
„Photographien aus Paris 1934–1938“, bis 30. 6., Verborgenes Museum, Schlüterstraße 70
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen