Der Mann des 16. April

„Ich kenne wen, der litt akut / an Fußballwahn und Fußballwut“: Der Ex-Hertha-Star und Kneipier Karl-Heinz Granitza, der in Chicago einen eigenen Tag hat  ■ Von Anja Schermuly

Mit seinem Brillenmodell à la Heiner Müller, hier allerdings in der bonbonrosafarbenen Version, zieht dieser Mann in den besten Jahren sofort alle Blicke auf sich: Karl-Heinz Granitza, Profifußballer von 1976 bis 1979 bei Hertha BSC und später bei Chicago Sting in USA, ist inzwischen 45 und in Berlin nicht nur wegen seiner Brille bekannt wie ein bunter Hund. Auch heute noch ist der erfolgreichste Torschütze, den Hertha je besessen hat, häufig auf dem Fußballplatz zu finden, wo er gerne „herumschreit“ und seine „Gefühle so richtig rausläßt“. Nur nicht mehr bei Hertha, sondern in der Altherrenmannschaft der Reinickendorfer Füchse.

Fragt man Granitza nach seinem alten Verein wird er wütend: der Hertha-Präsident „ist ein Verlierer wie er im Buche steht. Der hat keine Ahnung vom Fußball, der hat nicht einmal das Charisma, für Hertha betteln zu gehen. Es kann nicht angehen, daß solche Verlierer, und das sind Verlierer für mich, in einem Verein wie Hertha den Ton angeben. Das sind miese, miese, miese Leute, die sich in diese Position hineinmanövriert haben. Das ist traurig, traurig, traurig für Berlin.“ Und eigentlich spricht Granitza lieber über angenehmere Dinge.

Seit vier Jahren ist der gebürtige Westfale Wirt einer schmucken Kneipe namens State Street in der Grolmanstraße am Savignyplatz. Rotweißkarierte Tischdecken, lackierte Holzwände, an denen eine amerikanische Flagge, eine Reihe US-Nummernschilder und Bilder hängen, die den jungen Granitza etwa bei spektakulären Kopfballaktionen zeigen und so den Ruhm vergangener Tage dokumentieren. Gern erzählt „Alice“, wie sie ihn hier nennen, von alten Zeiten: Wie er in der Saison 1977/78 in 31 Spielen 17 Tore erzielte und damit auf Platz 7 der Torschützenliste stand und daß er mal zur „erweiterten Auswahl“ von Jupp Derwall gehörte.

Doch dann zog ihn die auch damals schon unzuverlässige Zahlungsmoral Herthas in die Staaten. Dazu kam die „Neugier auf ein fernes Land, das mich vielleicht vom Fernsehen fasziniert hat, das ich aber überhaupt noch nicht kennengelernt hatte“. 1981 führte er die Chicago Sting zur US-Soccer- Meisterschaft. Drei Jahre später wurde er in Chicago — noch vor Michael Jordan — zum beliebtesten Profisportler gewählt. Nicht nur das: „Ich bin Ehrenpräsident vom Chicago House of Blind, ich bin im Heart Foundation, ich bin für die Aids-Society in den erweiterten Vorstand gewählt, ich bin bekannt in der Lesben- und Schwulenszene, die auch einen Fanclub haben. Ich bin in einer Weise hofiert worden, die sich ein normaler Profifußballer nicht vorstellen kann. Was stolz macht, aber nicht reich.“ In Chicago ist Karl- Heinz Granitza immer noch ein Begriff: „Ich habe einen Tag, der nur nach meinem Namen benannt ist. Das ist der 16. April; das ist der Karl-Heinz-Granitza-Tag. Ich hab auch eine eigene Straße in Chicago. So heißt die Straße: Granitza Boulevard.“ Denen, die's nicht glauben wollen, zeigt er gerne eine Kopie des Schildes.

Doch die Tage des Ruhmes im Land der unbegrenzten Möglichkeiten waren gezählt: Frau und Kind wurden in der Ferne heimwehkrank, und so flog Familie Granitza zurück nach Deutschland. Doch hier hatte man dem Heimkehrer gegenüber durchaus seine Vorbehalte: „Die denken, du kommst aus einer Operettenliga, aus einer Society, wo die nichts von Fußball verstehen, was widerlegt worden ist. Realistisch gesehen war ich mit Anfang vierzig auch schon zu alt, um weiter Profifußballer zu sein. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Die ersten zwei Jahre habe ich gar nichts gemacht, von Ersparnissen gelebt und Trübsal geblasen. Es war eine ganz schlimme Umstellung auf eine andere Society. Ich bin ja praktisch ein halber Amerikaner geworden in den zehn Jahren und hatte große Probleme bei der Wiedereingliederung. Du fängst ja total von vorne an.“

Zunächst verschlug es Granitza nach Dortmund; dann kehrte er nach Berlin zurück und eröffnete eine kleine Eckkneipe in der Grolmanstraße. „Man hat ja keine Wahl, wenn man gewisse Beziehungen hat.“ Schultheiss und der ehemalige Hertha-Präsident unterstützten sein gastronomischen Engagement.

Der Anfang war nicht leicht: „Immer am Existenzminimum. Existenzängste bis zum Gehtnichtmehr.“ Doch Granitza ließ sich nicht unterkriegen und „erkämpfte und erarbeitete“ sich viele Stammgäste. „Mir macht es immer mehr Spaß. Es kommen Superstars hier herein, Franziska van Almsick feierte hier ihren Geburtstag, es kommen politische Leute, und es kommen auch Arbeiter hier herein. Es ist ein totaler Mix von Leuten, den ich mir vorher nicht so vorgestellt habe. Ich dachte, es kommen mehr sportorientierte Leute. Das ist nicht der Fall.“

Nicht der Fußball ist es, der in erster Linie die Gäste lockt: „Ich glaube, das ist die Wärme, die sie hier empfangen. Ich glaube, daß ich denen das Gefühl gebe, die können über alle Sachen mit mir reden. Ob das der Rechtsdruck ist in Deutschland oder der Linksdruck; ich kann mit denen über Israel, ich kann mit denen über Südafrika reden, weil ich da gewesen bin. Durch meine Neugier hab ich mich immer für alles interessiert, habe mit Kissinger gesprochen, habe jüdische Freunde in Chicago ... also ich weiß schon über manche Sachen zu reden.“

Alle wichtigen EM—Daten werden ins Fenster gehängt, quasi als Einstimmung oder als Basiswissen für alle NichtspezialistInnen. Drei große Fernseher garantieren eine gute Sicht auf das Spielgeschehen, und da Fußball nun mal kommentarbedürftig ist und man im State Street nicht auf die Heribert Faßbenders allein angewiesen sein will, lassen die Anwesenden gern den Profi zu Wort kommen: „Dann schrei ich schon mal dazwischen, daß die Pfeife so eine Chance vergeben hat, und dann fragen die natürlich, wie ich die Chance reingemacht hätte. Dann sag ich natürlich, anstatt den Ball Volley zu nehmen, hätt ich den gestoppt und ihn ganz ruhig reingeschoben. Und dann lachen die natürlich alle, und das ist natürlich 'ne Freude.“

State Street, Grolmanstraße 59, Charlottenburg, geöffnet täglich ab 16 Uhr „bis zum bitteren Ende“.