Ein Fragebogen entschied über Leben und Tod

■ Demonstration erinnert an die Planung der Nazimorde an Psychiatriepatienten

An dem Ort, an dem von 1940 bis zum Kriegsende die Vernichtung von Psychiatriepatienten geplant wurde, in der Tiergartenstraße 4, befindet sich heute eine Bushaltestelle. Die bei Kriegsende zerstörte Stadtvilla, deren Adresse der Vernichtung den Tarnnamen gab: „Aktion T4“, stand in der Nähe der heutigen Philharmonie.

Auf der Grundlage eines formlosen Geheimschreibens Hitlers wurde hier die Tötung von 200.000 Psychiatriepatienten geplant. Am Ende des Krieges waren die psychiatrischen Anstalten leer. Mit einer Demonstration am heutigen Samstag wollen neun psychiatriekritische Organisationen an die Ermordeten erinnern und zugleich die Aufarbeitung der Verbrechen einklagen. Von der Gedenktafel vor der Philharmonie geht der Demonstrationszug zur Charité. Auch deren damalige Chefärzte für Psychiatrie hätten die Fragebogen ausgefüllt, anhand derer die Ärzte der T4 die vermeintlich unheilbar Kranken selektierten, erklärte Réné Talbot, Vorstandsmitglied des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener. Die als nicht mehr „lebenswürdig“ befundenen Patienten wurden dann abgeholt und in sechs Tötungsanstalten wie Grafeneck bei Reutlingen, Brandenburg und Hadamar mit Gas oder überdosierten Beruhigungsspritzen umgebracht.

Die Bedeutung der Aktion T4 als Prototyp für die spätere Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Schwulen und anderen Gruppen, sei zuwenig bekannt, meint Talbot. „Die Psychiatrisierten waren die Gruppe, an denen die systematische Vernichtung von Leben erprobt wurde.“ Die Dienststelle T4 gab 1942 über hundert Mitarbeiter zur „Endlösung der Judenfrage“ ab. Die ersten Kommandanten von Belzec, Sobibor und Treblinka kamen aus der T4, heißt es in dem Buch „Aktion T4“.

Dem Tötungsprogramm lag die irrige Vorstellung zugrunde, daß psychische Krankheiten vererbbar und mit der Tötung und Sterilisierung der Kranken ausrottbar seien. Talbot dazu: „Trotzdem gibt es uns. Welch ein Triumph der Ver- rücktheit.“ Dorothee Winden

Die Demonstration beginnt um 13 Uhr an der Gedenktafel vor der Philharmonie