Justitia mit Farbbeutel gepudert

■ Prozeß um Farbbeutelwürfe auf Diepgen zur Eröffnung der Oberbaumbrücke: Staatsanwaltschaft und Gericht sind an entlastenden Beweisen wenig interessiert

Die Stimmung ist feindselig. Auf der einen Seite stehen der Staatsanwalt, die Richterin und sechs Polizeizeugen. Auf der anderen die Angeklagte und ihr Anwalt. Im Saal 863 des Landgerichtes Moabit soll ein Polizeivideo gezeigt werden. Es soll beweisen, so Anwalt Sven Lindemann, daß Susanne W. bei der Eröffnung der Oberbaumbrücke am 9. November 1994 keinen Farbbeutel in Richtung des Regierenden Bürgermeisters geworfen haben kann. Doch Staatsanwalt Reiner Krüger scheint hellseherische Fähigkeiten zu haben. Noch bevor die „Play“- Taste aktiviert wird, schimpft er: „Ich brauche mir das gar nicht anzugucken. Das ist Zeitverschwendung.“

Bereits seit September letzten Jahres wird gegen die 32jährige Theaterpädagogin Susanne W. verhandelt. Zehn Monate hat das Gericht gebraucht, um gestern endlich dem Antrag des Anwalts zu entsprechen und für das Beweismittel „Videofilm“ einen Recorder aufzutreiben.

Doch noch wichtiger als die Bilder sind die Zeiten. Das Display zeigt 11:05 Uhr: Diepgen schreit gegen die Pfiffe der Demonstranten an und spricht von der „ganz besonderen Bedeutung“ der Brücke für das Zusammenwachsen der Stadt. 11:06 Uhr: Zwei Farbbeutel werden aus der Menge heraus in Richtung Rednerpult geworfen. Ein Beutel streift das Kinn eines Bodygards des damaligen Kreuzberger Bürgermeisters Peter Strieder (SPD). Einige männliche Demonstranten werden abgeführt, während Diepgens Worte im Protest untergehen. 11:20 Uhr endet Diepgens Rede, und da wird es interessant.

Denn Susanne W. soll laut Polizeiprotokoll und Aussage des Polizisten, der sie festgenommen hat, um 11:35 Uhr einen Farbbeutel geworfen haben – als Diepgen sprach, wie der muskelbepackte Polizist mehrfach versicherte. Daß zu dieser Zeit aber Strieder am Mikro stand, daran kann auch das mehrmalige Vor- und Zurückspulen des Videos nichts ändern. „Das kann ich mir nicht erklären“, sagt der Polizist kleinlaut, der zuvor noch versichert hatte, daß er sich bei der Tatzeit „unmöglich“ um zwanzig Minuten vertan haben könne. Auch die Angeklagte, die vorher in der Menge der Demonstranten zu sehen war, taucht zur vermeintlichen Tatzeit nicht auf.

Doch das ficht den Staatsanwalt, der einen Meter vor dem Video sitzt, nicht an: „Ich konnte das nicht so erkennen“, sagt er trotzig. Auch die Richterin, die sich dagegen verwahrt, daß ihr Name veröffentlicht wird, macht aus ihrer Haltung gegenüber dem linken Anwalt keinen Hehl. Als Lindemann den Staatsanwalt unterbricht, weil dieser einem Polizeizeugen seine Äußerungen vom letzten Jahr vorliest, bevor dieser sein Gedächtnis aktiviert, weist sie ihn lautstark in die Schranken: „Ich mache das nicht mehr mit. Entweder Sie beruhigen sich, oder wir machen fünf Minuten Pause!“ herrscht sie den Anwalt an, der die Ruhe in Person ist. Zu guter Letzt zeigt sich die Richterin äußerst unzugänglich, einen Termin für die nächste Verhandlung zu finden, an dem auch Anwalt Lindemann kann. „Das ist ja schließlich keine Pflichtverteidigung“, fügt der Staatsanwalt eilfertig hinzu. Man einigt sich schließlich auf den 20. Juni. Dann wird der Bodygard, den der Farbbeutel traf und der derzeit Urlaub macht, als Zeuge gehört. Barbara Bollwahn