Das größte Lager Europas

Der Potsdamer Platz ist eine erstrangige Touristenattraktion. Die angeblich „offene Baustelle“ ist jedoch abgeschottet wie ein Arbeitslager  ■ Von Helmut Höge

Der Potsdamer Platz oder auch janz Berlin ist zwar nur ein Schiß gegenüber den Betonmassen, die in Bangkok oder Shanghai vergossen werden, trotzdem scheint es so, als hätte der ehemalige Chef des Rüstungskonzerns Daimler-Benz, Reuter, den arbeitslosen Massen West- und Osteuropas zugerufen: „Bevölkert diese Stadt! Seid schlau, kommt zum Bau!“ 15 Nationen zählte jüngst ein Reporterteam auf den hiesigen Baustellen. Aber bis vor kurzem – bis zur Ablehnung des Mindestlohns im Baugewerbe durch die Arbeitgeber – interessierte sich kein Schwein für diese Erbauer der neuen Hauptstadt: Die Politiker faselten von der „Konjunkturlokomotive Bau“ (Diepgen, Rexrodt) oder tönten theologisch: „Jede Baustelle ist eine Hoffnungsstelle“ (Stolpe/ Laurien), ja schulten sogar Zigtausende von Ost-Arbeitslosen noch zu Bauarbeitern um, die Journalisten gingen sogar so weit zu schreiben: „Staumacher Bauarbeiter – Zwei Kaffee-Pausen in einer Stunde“ (BZ).

Was die Springer-Journalisten dumpf raushauen, hauptstädtert der Berlin-Autor der FAZ, Schlögel, hymnisch: „Baustellen sind wie Wirbel“ und „die Stadt gewinnt an Tempo. Es entsteht das komplizierte Regelwerk aus Vorfahrt und Anhalten, die Disziplin des Stop and Go.“

Seitdem sich jedoch immer mehr Journalisten, zum Beispiel am Potsdamer Platz, wo Daimler- Benz, Sony und ABB bauen, für die Bauarbeiter interessieren, wird deutlich, daß es sich bei dieser Baustelle um eine Art postfaschistisches Arbeitslager handelt, wo vorwiegend Ausländer mangels Verdienstmöglichkeiten in ihrer Heimat gezwungen sind, sich für einen Hungerlohn selbst zu „versklaven“ (und das auch selbst so nennen). Sie sind angehalten, nicht über ihre Löhne mit Journalisten zu reden, auch nicht über ihre Unterbringung: winzige Zweibettzimmer in Blechcontainern, in denen sie sich auch noch verpflegen müssen, die vom Lärm umtost und im Sommer brütend heiß sind. Bei Unfällen und Todesfällen erfährt die Berufsgenossenschaft nichts, da sie nur deutsche Arbeiter registriert. Die Schwarzarbeiter unter ihnen werden mitunter sogar schwerverletzt über die Grenze zurückgeschafft – so wurden bereits zweimal Transporte mit querschnittsgelähmten polnischen Bauarbeitern an der Oder gestoppt. Unter den Polen rangieren noch die Russen und Ukrainer – sie bekommen nur 20 Mark am Tag. Hinzu kommt noch die Ablehnung durch ihre deutschen Kollegen, die ohnmächtig dieser zunehmenden Dumping-Konkurrenz aus dem Ausland gegenüberstehen und sich dieser nicht anders als rassistisch zu erwehren wissen. Als zwei Bauarbeiter eines kleinen Subunternehmers, die netto 3.200 Mark verdienen, gefragt werden, was sie täten, wenn ihr Chef sie entlassen und statt dessen Portugiesen für 8,15 Mark die Stunde einstellen würde, antworten sie: „Was meinst du, wie schnell deren Container brennen!“ Die Gewerkschaft IG Bau kämpft dagegen – mit dem Rücken zur Wand. 23.000 arbeitslos gemeldete Bauarbeiter gibt es bereits in der Stadt – Tendenz steigend.

Obwohl die Berufsgenossenschaft und die IG Bau inzwischen mit einem Info-Container am Rande des Potsdamer Platzes vertreten sind und laut Tarifvertrag sogar jederzeit die Bauarbeiterunterkünfte inspizieren können, bekommt die Gewerkschaft auf dem Baugelände, das eingezäunt ist und nur mit Spezialausweisen sowie in Begleitung von bezahlten Führern der drei Bauherren betreten werden darf, keinen Fuß auf den Bauboden. Der Potsdamer Platz ist das größte geschlossene Arbeitslager Europas – und ausgerechnet hierbei spricht die FAZ von einer „offenen Baustelle“. Viele Bauarbeiter sind in Kasernen am Stadtrand untergebracht – zum Beispiel Bosnier: Sie verdienen 2.000 Mark netto im Monat: Davon müssen sie 400 Mark für Vermittlung und Transfer aus der Heimat an ihren „Sklavenhändler“ zahlen, 200 Mark nimmt ihnen die deutsche Baufirma für den Bustransport von der Kaserne zur Baustelle und zurück ab, 500 Mark müssen sie für die Unterkunft in einem Zweimannzimmer in der Kaserne bezahlen und dann noch für Arbeitskleidung und Verpflegung aufkommen – am Monatsende bleiben ihnen 300 Mark. Die Wochenpost berichtete, daß die Bosnier- Brigade neulich noch nicht einmal dieses Geld ausbezahlt bekam, weil ihr Schlepper mit den Lohngeldern abgehauen war: „Reden will darüber keiner. Die haben Angst, sie kriegen ein Messer in den Rücken“, sagt Polier Franz Kapsecker. Auch die Baustellen- Bullen und -Verantwortlichen von Daimler, ABB und Sony kriegen langsam Schiß: Einmal, daß die gespannte Situation zwischen Deutschen und anderen Nationalitäten mit steigenden Temperaturen zu einem Baustellenkrieg ausartet und zum anderen, daß die Kritik an ihrer Arbeitslagerorganisation lauter wird. In dieser Situation reagieren sie zunehmend aggressiver: Bauarbeiter, die mit Alkohol erwischt werden, müssen mit Entlassung rechnen, ebenso ausländische Arbeiter, die zu lange dem Dolmetscher der IG Bau Fragen beantwortet haben. Ein IG-Bau-Journalist wurde neulich des Platzes verwiesen, nur weil er Unterkünfte von außen fotografiert hatte.