„Ick bin nich von hia“

Berliner kennen ihren Kiez, aber nicht ihre Stadt. Die besten Dönerbuden und Second-Hand-Läden kennt der Besuch aus JotWeDe  ■ Von Martin Kaluza

„Berlin ist eine Reise wert“ heißt es pauschal, und der Satz wird nicht nur gern auf Plakate der Deutschen Bahn gedruckt, sondern auch Berliner äußern ihn mit großer Überzeugung und blinkenden Augen. Fragt man dann nach, wieso man denn nach Berlin fahren muß, sind die Erklärungen oft ein wenig kurz gehalten – von Nachtleben, dem Brandenburger Tor und Weltstadt ist da die Rede. Alte Westberliner denken vielleicht noch daran, daß es Leute wie Günter Pfitzmann, Evelin Künecke oder Harald Juhnke eigentlich nur hier geben kann, alte Ostberliner denken dasselbe von Gregor Gysi.

Oft scheint es, daß Berliner gar nicht so viel von ihrer Stadt kennen: Die Kreuzberger können allenfalls Gründe angeben, warum es in Kreuzberg gut ist, für die Prenzelberger spielt sich Berlin zwischen Kollwitzplatz und Schönhauser Allee ab. Zehlendorfer kennen ihren Garten und den Weg zum nächsten Meyer-Beck, und die Marzahner verlassen ihre komfortable Dreiraum-Platte eher ungern. Einen kleinen gemeinsamen Nenner bilden die Sehenswürdigkeiten, die entlang er Buslinie 100 liegen: Zoo, Siegessäule, Bellevue, Brandenburger Tor/Reichstag, Linden, Alex. Die dreiviertelstündige Tour quer durch die City läßt die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbeipassieren.

Der gemeine Berliner, so scheint es mithin, wird in seinem Stadtteil geboren, geht dort zur Schule, zieht vielleicht ein-, zweimal um, ohne die Bezirksgrenzen zu überschreiten und stirbt ebenda. Man wundert sich, daß die U-Bahnen immer so voll sind. So bietet die von allen eigentlich heißgeliebte Metropole ein Bild innerer Zerrissenheit, zu dessen langsamer Kittung die Berliner selbst im Moment nicht allzuviel beitragen mögen: Hier sind nun die Schwaben, Sachsen, Fischköpfe und Rheinländer gefordert.

Für die von den Berlinern selbst nicht geleistete Integrationsarbeit haben die Auswärtigen und Wahlberliner oft die besten Voraussetzungen: Kommen sie kurz auf Besuch nach Berlin, sind sie in der Regel gut vorbereitet, haben alternative Reiseführer studiert und gelesen, was in den Provinzblättern unter Rubriken wie „Was macht eigentlich die Hauptstadt?“ steht. Mit anderen Worten: Sie wissen sehr gut und bis in kniffelige Details hinein, warum denn Berlin eine Reise wert ist. Zudem sind Auswärtige oft toleranter hinsichtlich des bezirkspatriotischen Lagerdenkens – lesen sie von einer interessanten Ausstellung in der Zitadelle, fahren sie kurzerhand nach Spandau. Welcher Karlshorster oder Tegeler wurde in dem scheinbar entlegenen Stadtteil schon einmal angetroffen? Umgekehrt kommt es zu Reibungen, wenn Stadtteilfreunde sich in abgesteckte Terrains wagen – so hörte ich kürzlich, wie sich in einer „Szene“-Kneipe in Mitte jemand beschwerte, jetzt kämen auch schon die Friedrichshainer dorthin. Der Rheinländer, der in die innermetropolitane Kontinentaldrift noch nicht eingeweiht ist, steht verständnislos vor diesen Anwandlungen: Für ihn ist Berlin eben noch Berlin und nicht nur 36 oder Tegel oder Köpenick. Als ich selbst noch nicht viel von Berlin kannte, waren es sorgfältig recherchierende Schwaben, die mir die interessanten Second-Hand-Läden in Kreuzberg gezeigt haben.

Hinzu kommt, daß auswärtiger Besuch erstaunliche Dönerbuden auftut, und auch dafür findet sich eine natürliche Erklärung: Oft genug findet man in anderen Städten Deutschlands entweder gar keine Dönerbuden oder die Menschen haben sich schon an Minimaldöner zu preisen von fünf bis sechs Mark gewöhnt. Bekomme ich einmal Besuch aus Böblingen, muß ich in der Regel gar nicht kochen, ißt dieser doch nicht selten zwei oder drei Einheiten des türkischen Schnellgerichts am Tag.

Was offenbar für die vorübergehenden Berlinbesucher gilt, scheint nun in gewisser Weise auch auf Zugereiste, auf Neuberliner zuzutreffen. Sie kennen sich gut in der Stadt aus: Man ist auf der Suche nach einer bis dato unbekannten Straße, steigt in der vermuteten Nähe aus der U-Bahn und fragt ein paar Leute, wo die gesuchte Adresse denn sein möge. Mehrere Male bekommt man die unzweideutige Antwort: „Weeß ick doch nich. Bin nich von hia.“ (Was vermutlich heißt, daß die befragte Person ein oder zwei U-Bahnstationen weiter wohnt.) Die erste brauchbare Antwort lautet etwa: „Ah, des! Woisch, da goscht da hanne num un an der zweide Ambel, da isch's glei, des siehsch dann schoh.“

Auch Taxischulen bestätigen den Verdacht, daß die dort ausgebildeten Fahrer in der Regel keine gebürtigen Berliner sind, sondern Leute, die es beispielsweise durch das Studium hierher verschlagen hat. In einem Fall war ausdrücklich von „Rei'gschmeckten“ die Rede. Bei der Taxischule „Känguruh“ ging man sogar so weit zu sagen: „Berliner sind oft die Problemfälle. Sie haben vor acht Jahren mal Schrippen oder Medikamente ausgefahren und denken, sie kennen sich aus. Aber frag sie bloß nicht nach Straßennamen!“

Damit Berlin eben doch Berlin bleibt, braucht die Stadt Besucher von Auswärts ebenso, wie Neuberliner aus allen Himmelsrichtungen.