Berlin auf der Couch

Schwere Kindheit, bäuerlich provinzielle Herkunft, Identitätsprobleme: Ein psychoanalytisches Beratungsgespräch  ■ aufgezeichnet von Ute Scheub

Herzlich willkommen in unserer Praxis. Sie heißen?

Berlin.

Herr oder Frau Berlin?

Wenn ich das wüßte.

Aha. Moment. (notiert: „Geschlechtsidentitätsprobleme. Verdrängte Vateridentifizierung?“) Herr, Frau, ich nenne Sie jetzt mal Herr Berlin, wenn ich das richtig interpretiere, würden Sie gerne wissen, wer Sie sind?

Ja. (Patient stöhnt, schwitzt) Ja, das möchte ich wirklich gerne mal wissen. Niemand liebt mich. Alle trampeln sie auf mir rum.

Jetzt legen Sie sich mal bequem auf diese Couch. (Patient legt sich folgsam hin). Wer trampelt?

Herr West, Frau Ost. (trampelt selber gegen die Sofalehne)

Ihre Eltern?

Ja. Sie sind geschieden. Sie haben sich getrennt, schon vor fast fünfzig Jahren. (stöhnt laut) Wenn sie mich wenigstens in Ruhe gelassen hätten. Aber seit Jahrzehnten streiten sie sich um mich. (verbeißt sich in ein Sofakissen) Jeder will mich auf seine Seite ziehen.

(Beruhigend) Wissen Sie, das ist so etwas wie ein Liebesbeweis. Manche Eltern sind halt ein bißchen gehemmt und können das nicht so direkt aussprechen.

(Fährt aggressiv auf und spuckt das Kissen aus. Daunen fliegen durch die Luft) Ach was! Vater Staat! Mutter Nation! Daß ich nicht lache! Die wollen mich doch nur für ihre Zwecke ausnutzen.

(schaut pikiert auf ihren federchenbeschmutzten Parkettboden) Also mein lieber Herr Berlin, ich bin sehr geduldig mit meinen Patienten, aber das geht zu weit. Das beseitigen Sie bitte nachher mit dem Staubsauger.

(Fährt auf) Immer bin ich die Putzfrau! Der Feudel der Nation! Immer soll ich den Herrschenden den Hintern abwischen!

(einlenkend) Jetzt legen Sie sich bitte wieder hin. Ist ja gut. (notiert: „Massive Wehleidigkeit verbunden mit aggressiven Exzessen, deutet auf narzißtische Grundstörung hin“) Wir wenden uns jetzt mal Ihrer Kindheit zu. Schließen Sie bitte die Augen. Entspannen Sie sich. Sie sind jetzt ein kleines Kind und sitzen auf einer Wiese im Urstromtal der Spree. Was sehen Sie?

Abgenagte Rentierknochen. Ein paar Pfeilspitzen. Menschen, die noch halb auf den Bäumen hängen. (Bricht in Weinen aus, verbeißt sich in seinen linken großen Zeh:) Aaah, das tut gut!

(Notiert: „Minderwertigkeitskomplexe wegen bäuerlich-provinzieller Herkunft. Sadomasochistische Destruktionstendenzen“) Machen Sie das immer, wenn Ihnen etwas weh tut?

Ja. (Der halbe Zeh hängt zwischen seinen Zähnen, Blut tropft).

Sie glauben, Sie müßten für Ihre blutige Vergangenheit büßen?

Ja. (wie im Delirium:) Albrecht der Bär und Friedrich der Große ... Kopf ab und vorangestürmt! Ich sage nur Bismarck, eisern, eisern! Die blauen Dragoner, sie reiten, ins Gas, das macht Spaß. Verdun, Versaille, Normandie, heil dir Führer im Siegerkranz, ich liebe euch doch alle ...

(entsetzt) Hören Sie auf!

(wehleidig) Jaja, das will niemand hören. Selbst Sie als Vergangenheitsbewältigungsbeamtin wenden sich ab. (Beißt den rechten großen Zeh ab und spuckt ihn ihr vor die Füße)

Hören Sie auf! ( schaut erschreckt auf den Zeh, murmelt vor sich hin:) Selbstkastration? Symbolischer Vatermord? Impotenz?

(schreit) Jawoll, Impotenz! Inkompetenz! Impertinenz! Insuffizienz! Ignoranz! Igelschwanz!

(murmelt weiter, vergräbt den Kopf in ihrem Notizbuch) Igelschwanz, Igelschwanz. Potenzprobleme, sexuelle Obsessionen, Patient fühlt sich schuldig wegen ...

(beißt sich eine Hand ab, schreit völlig außer sich) Schuld, Schuld, jawoll! Vergangenheitsschuld, Staatsschuld! Zahlen, aber sparen! Wiedergutmachen, aber sparen! (reißt sich die Brust auf, greift in den Brustkasten, klatscht sein blutiges Herz auf den Parkettboden, hält inne, fragt in gefährlich leisem Ton:) Wissen Sie, warum ich das mache? Weil ich irre werde an diesen Politikern! Ich soll das neue Deutschland mit seinen protzigen Regierungsbauten repräsentieren, aber bitte bescheiden! Mit Konzerntürmen und Kanzlertunnel, aber ohne Geld für Sozialprojekte und Universitäten! Mit porentief demokratischen Antifaschisten, aber ohne Geld für Erinnerungsarbeit! In teuerster Haute Couture, aber ohne Kopf, ohne Herz, ohne Hände und Füße! Wissen Sie was, liebe Frau Dr. Dr. Dr., auch Sie können Ihren Beitrag zum allgemeinen Sparen leisten, Sie können sich nämlich Ihre Diagnose sparen und Ihre Therapie in den Hintern stecken. Die Farbe Ihrer Couch gefällt mir nicht, und im übrigen habe ich mir die Diagnose längst selbst gestellt: manifeste Schizophrenie aufgrund anhaltender Double- Bind-Situationen. Leider gibt es nur einen, der mir aus dem Schlamassel heraushelfen kann: ich selbst.