Wenn Berliner zu sehr lieben

Im Zug Richtung Hauptstadt wurde der Autor, seit 13 Jahren „Berlin-Insasse“, Zeuge eines Gespräches. Fazit: Die Balliner Heimat ist einzig unter den Heimaten, der nur mit Theke, Antitheke und Apotheke beizukommen ist  ■ Von Wiglaf Droste

Warum kostet eine Tasse Kaffee fünf Mark? Warum heißt ein muffiger dunkler Verschlag, eine Art Essen-auf-Rädern-Kantine mit Stammessen I-IV Bordrestaurant? Warum haben Züge Namen? Damit man sie rufen kann, wenn sie weglaufen? Acht Stunden rumpelt der Interregio, dieser Vorgeschmack des vereinten Europa, von Stuttgart in die Hauptstadt. Sitzplatz habe ich keinen, aber mir steht das Bordrestaurant zur Verfügung. Während ich auf einen Kaffee warte, kann ich drei Tische weiter das immer wieder und auch diesmal schöne, ja faszinierende Schauspiel erleben, wie sich bislang fremde Menschen kennenlernen, ja sogar menschlich näherkommen. Ein rotgesichtiger, schwerer Mann in den 50ern und ein etwa gleichaltriger, aber von Alkoholabusus und Schweinefleischverzehr weit weniger gezeichneter Mann mit grauem Backenbart und Brille erheben sich nahezu feierlich von ihren Bratpfannenhintern, um eine Frau Anfang 40 zu begrüßen, die sichtlich auch schon einiges in sich hineingetrunken hat im Laufe ihres Lebens, aber noch nicht ganz und gar aus dem Leim gegangen ist. Vor wenigen Minuten ist man sich im Abteil zum ersten Mal begegnet, hat dort festgestellt, daß man dasselbe Ziel, dieselbe Heimat hat. Berlin, beziehungsweise Ballin!, Berliner Heimat, einzig unter den Heimaten!

Die Dame ist der Einladung der beiden Herren in den Speisewagen tatsächlich gefolgt, hurra, oho, ein Grund zum Feiern. Während ich Wimpern und Lider senke und mein Ohr drei Tische weiter zu installieren versuche, erweist sich dieser getarnte Lauschangriff als übertrieben, ja überflüssig: Die drei sind Berliner, richtige, echte Berliner, und ihre Grundlautstärke liegt somit bei circa alle Regler rechts.

„Aaah! Prinzessin! Mein Prinzeßchen!“, streckt Rotgesicht die Hände nach der Frau aus, die brav ihre Finger in seine dicken Kloben legt, er hält fest, läßt nicht locker, strahlt, plumpst in seine Bank, die Hände noch immer am Objekt, dem das gar nicht übel zu gefallen scheint. Graubart dagegen hält sich zurück, setzt offenbar auf den Charme des Mannes im Hintergrund beziehungsweise ist noch unentschieden, wie weit er sich am gerade gestarteten chercher-la- femme-Gedächtnisrennen beteiligen soll. Rotgesicht – er hat die schwammige Physiognomie Eberhard Diepgens, nur die Gesichtseinfärbung ist um einige Spuren pudriger – rakt die unegalen Finger jetzt in die Luft und wühlt und rührt nach dem Kellner, dem Ein- Mann-EC-Team, das herbeigeeilt kommt. „Hammse Schammpannja? Ja?! Einmal Schammpannja für meine Valobte! Hähä! Für uns Pils und für mich noch einen, nee, zwo Doornkaat! Aba zack-zack, wa! Meine Valobte hat Durst!“ Die soeben frisch Verlobte ist höchst entzückt über soviel Charme, Herr Doornkaat wiederum entzückt über ihr Entzücken. „Laß ma, Prinzeßchen, iss schon jut, habda sonne kleene Firma in Ballin, wa, na ja, eijentlich isses eher ne jroße Baubrangsche, wa“, prahlt er selig. Die erste Runde ist blitzschnell weggeputzt, die zweite geordert. Die von Doornkaat-Rotgesicht-Diepgen begehrte Frau, das Gesicht leicht rosé schon vom prickelnden Getränk, holt ein Kaugummi aus der Tasche. „Aaah, Jummi – Präservative, wa? Schwarze, wa?“, ächzt wie in Vorfreude Baulöwe. „Na ja, der eine kann zweemal am Tach, der andere zweemal im Jahr, hähä“, setzt er irgendwie sinnlos hinzu und läßt im dunkeln, ob er sich damit als Zuchthengst oder als bereits ausgemusterter Exgeschlechtsverkehrer präsentieren wollte. Dessen ungeachtet wird der Faden dankbar aufgenommen, nach dem inzwischen vierten Glas – das Trinktempo ist schwindeligmachend – gibt Prinzeßchen bereitwillig Auskunft. Apothekerin ist sie, ihr Ehemann Apotheker, eine gemeinsame Apotheke wie eine gemeinsame Tochter gibt es. „Süüüß!“, brüllt Baulöwe ahnungslos, aber zu jeder Begeisterung bereit, dazwischen, mit dem Apotheker, so erfährt mit mir jeder Insasse des Bordrestaurants, „läuft aber schon seit Jahren nichts mehr. Wir sind zwar noch verheiratet, aber man lebt doch nicht mehr im 18. Jahrhundert! Ich habe auch meine Bedürfnisse!“, spricht es jetzt aus der Frau. Baulöwe- Doornkaat-Diepgen-Rotgesicht, der inzwischen stark ins Blau-Violette hineinspielt, ist nur noch glücklich. „Aba keene Schweinereien, wa?“, japst er lauernd, hinter seinem wie eingeölt glänzenden Gesicht ersteht die Vision von tausend Versionen dessen, was er „Schweinereien“ nennt, die ihrerseits, schon in der bloßen Vorstellung, sehr durstig machen.

„Dettselbe wie vorher und noch mal zwee Doornkaat extra, ach so, und wose jrade hier stehn, könnse uns eijentlich mal fotojrafiern“, drückt er dem geplätteten Kellner eine Kamera in die Hand, „wir wolln doch mal zu dritt auf Foto, aba keen Dreia, wa, hähä!“ Der Kellner knipst und murmelt entschuldigend, der Champagner sei jetzt alle, kein Wunder, eigentlich, aber hier hört für Baulöwe der Spaß auf, er ist ein prima Kerl, mit dem man gut auskommen kann, aber er kann auch anders, kann auch andere Saiten aufziehen, ungemütlich werden. „Wie? Watt? Keen Schammpannja? Und Lachs hammse ooch nich, wa? Sajensema, wo sind wa denn hier?“, tobt er den jetzt nahezu komplett in sich zusammensackenden EC-Mann an, der aber unverhofften Prinzessinnenbeistand erhält: „Im Osten! Im Osten sindwa!“, kiekst und kräht Prinzeßchen. „Jrooßaahtich! Janz, janz jrooßaahtich!“, kommentiert Baulöwe diesen flauen Scherz, drischt mit gehwegplattendicken Pranken auf den Tisch ein. „Prinzeßchen, du bist einmalich! Jrooßaahtich!“, springt auf und umarmt – Endlich! Endlich! – trunken die trunkene Frau, seine Hände sausen rauf und runter an ihr, seitlich wie vorne und hinten, sein von Hitze, Schweiß und Schnappes naßglänzendes, glühendes Gesicht tunkt sich in das ihre, ein Kuß, fast reißt es mich aus dem Sitz: mit Zunge?

Ich kann nichts sehen, Doornkaat lila hat seine Finger um ihr Gesicht gemantscht, und gerade jetzt, wo ich die Maske des diskreten Beobachters fallenlasse und ungeniert begierig hinüberstarre, läßt er stöhnend von ihr ab, schwankt zurück auf seinen Platz, bebend vor Begeisterung über sich selbst und dieses pralle, mörderische, echte Leben. Die Glücklichen haben Triefaugen nur für sich, und langsam nähert sich der Zug der Hauptstadt. Noch einmal wird das EC-Tram traktiert. „Wech mit dem Scheiß! Frische Jläsa!“, grölt Baulöwe, eine Art Gesamterektion ist in ihn hineingefahren, durch ihn durchgegangen. „Im Leben iss dett imma so!“, herrscht er, geradezu sibyllinisch, den Kellner an. „So iss dett bei mir imma: Frisch jekotzt iss halb jeschissen!“, ein sphinx-, ja sphärenhafter Ausruf.

„Mußte deinen Mann nachher küssen?“, findet Baulöwe wieder roh in die Wirklichkeit zurück; Theke – Antitheke – Apotheke, das ist die Lösung, denke ich, langsam erlöschend.