Auf nach Berlin

In Berlin heißt die Devise nicht „Love it or leave it“, sondern „Hate it and stay“. Einer der wegging, bekam Heimweh nach „Gotham City“  ■ Von Karl Wegmann

Die erste Reaktion war: „Heilige Hölle! Bitte nicht Münster.“ Ich war in der Gegend aufgewachsen, und Münster besuchten wir damals nur, um Schallplatten zu kaufen. Sonst mieden wir die Stadt, mit ihren Horden von katholischen Studenten und ihren Kneipen mit dem Charme von Schlafsälen. Münster war ein schwarzes Loch, wer hier etwas Spaß haben wollte, mußte schon praktizierender Satanist sein. Das war in den 70ern. „Heute ist alles ganz anders“, versicherten uns Freunde. Regina und ich glaubten es. Als sie einen interessanten Job in der „westfälischen Metropole“ angeboten bekam, ließen wir uns auf das Abenteuer Provinz ein.

Berlin ist keine Stadt, in der man nach dem Grundsatz „Love it or leave it“ lebt. Hier lautet die Maxime „Hate it and stay“. Alle, wirklich alle meckern über die Stadt. Schlechte Luft, Wuchermieten, griesgrämige Busfahrer, ewige Staus, Fahrradfahrer in ständiger Lebensgefahr, Berge von Hundescheiße, überfüllte S- und U- Bahnen usw. Jeder will möglichst bald abhauen, aber alle bleiben und meckern weiter. Überall wurden unsere Umzugspläne mit „toll“, „in ein, zwei Jahren hau ich hier auch ab ...“ kommentiert.

In Münster sah die Sache etwas anders aus. Hier herrschte ungläubiges Staunen vor: „Was, ihr kommt aus Berlin und seid hierhin gezogen? Ich faß' es nicht, ich versuche seit Jahren einen Job in Berlin zu finden, um endlich hier wegzukommen.“ Wir malten dann immer ein düsteres Bild der Hauptstadt. Erzählten von nicht atembarer Luft, psychopathischen Busfahrern etcetera. Gegen unser Berlinbild wirkte Gotham City, wie Tim Burton es in seinen „Batman“-Filmen zeigt, lieblich.

Der erste Eindruck, im letzten Sommer, war durchaus positiv. Der Papierkram wurde schnell und freundlich erledigt. In Berlin war der Besuch bei einem Amt oder einer Behörde immer wie der Gang auf die Toilette einer Kreuzberger Szenekneipe: Man weiß, das es schlimm werden wird, die Frage ist nur wie schlimm. Anders in Münster, hier lächeln die Beamten, sind hilfsbereit und zuvorkommend. Nicht schlecht. Dann natürlich die Umgebung. Plattes Münsterland, ideal zum Fahrradfahren. In der Stadt selbst Dutzende von Biergärten, alle mit dem Rad oder zu Fuß zu erreichen. Nett, wirklich nett. Wir bepflanzten unseren Balkon, aktivierten alte Freundschaften und lernten die Stadt kennen.

Natürlich mußten wir auch zurückstecken. Das erste Mal war noch recht lustig. Wir hatten in unserer Gegend ein neues italienisches Restaurant entdeckt und sofort ausprobiert – und es war schlecht, richtig mies. Nun gut, das kann dir auch in Berlin passieren. Danach besuchten wir das Theatercafé. Ich bestellte zwei Espresso und einen Vecchia. „Was ist das denn“, fragte der Kellner in arrogantem Ton, und im gleichen Atemzug: „Das haben wir nicht!“ „Vecchia Romagna“, erwiderte ich belustigt. „Il Brandy. Temperamento Italiano.“ Doch der Mann schaute nur verunsichert. Dann entdeckte ich die Flasche im Regal über der Theke. „Da steht er, oberstes Regal, zweite von links.“ Der Kellner entspannte sich, gab sich hilfsbereit, fragte: „Nehmen sie ihn auf Eis?“ Ein Witz? Keineswegs, der Mann meinte es ernst. „Vergiß es! Bring uns nur den Kaffee“, beendete ich die Farce. Regina lachte und meinte später, daß jedes Theater das Café hat, das es verdient.

Dann war der Sommer vorbei und es wurde härter. Alte Münster-Witze, wie „Entweder es regnet, oder die Glocken läuten – und wenn beides zusammenfällt, dann ist Sonntag“ bewiesen ihren Wahrheitsgehalt. Fahrradfahren machte keinen Spaß mehr, die Biergärten machten dicht, die interessanten Restaurants waren alle getestet, die größten Ammoniten der Welt, das Mammutskelett im Geologisch-Paläontologischen und auch alle anderen toten Sachen in den anderen Museen waren angeschaut, gewürdigt und abgehakt worden. Was gab's noch?

Nicht viel. Zum Beispiel die wöchentlichen Sneak-Previews im Kino. Sehr beliebt bei den Studenten. Man weiß vorher nicht, was gezeigt wird, trotzdem sind die Sneaks fast immer ausverkauft. Und es geht recht fröhlich zu im Saal, man hört Rufe wie: „Hey Rudolf, komm rüber dann haben wir 'ne ganze Reihe BWL“. Am Ende wird die Vorführung dann von allen benotet. Auf Platz Eins der „Sneak Top 25“ steht übrigens „Der bewegte Mann“, der Film lief über ein Jahr in Münster. Heimweh nach Gotham City überfiel uns. Zunächst harmlos. Es wurden Vergleiche angestellt wie: „Der Libanese ist ja nicht schlecht, aber erinnerst du dich an den Thailänder in der Karl-Marx-Straße?“ Der Thailänder kam auf die Liste „Beim Berlintrip unbedingt besuchen!“ Mit der Zeit wurden alle und alles mit Berlin verglichen, regelmäßig wurde der Tip gekauft und der Veranstaltungskalender sehnsüchtig studiert – die Liste wurde immer länger. Trotzdem blieben wir tapfer. Jetzt hieß die Devise: „Leben in der Provinz ist wie ein Kartenspiel – man muß nehmen, was ausgeteilt wird.“ Also warteten wir geduldig, wenn zum Beispiel ein Film wie Jarmusch' „Dead Man“ hier erst Wochen nach dem Bundesstart anlief, wir besuchten Stadtfeste und Ausstellungen, die wir in Berlin nicht mit dem Arsch angeguckt hätten.

Der einzige akzeptable Ort, an dem man in Münster gute Musik live präsentiert bekommt ist das „Gleiss 22“, hier kann man sogar richtige Stadtmenschen treffen. Alles andere ist graues Studiland mit Yuppieenklaven und Hippiefriedhöfen wie Steffi Stefans „Jovel“. Ja, ich gestehe, wir waren kürzlich im „Jovel“ zum Udo-Lindenberg-Konzert – und haben es überlebt. Doch gleich darauf flüchteten wir nach Berlin. Alles war herrlich! Der Smog, die Enge in der U-Bahn, die liebenswert brummigen Busfahrer, die durchzechten Nächte in stinkenden Kneipen. Als die alten Freunde dann wieder anfingen zu meckern, lächelten wir wissend. Und wenn jetzt nicht wieder Sommer wäre ...