Einer gegen alle: Der Reiseleiter

Menschenkenner, Dompteur, Charmeur, Kindermädchen, Animateur und Diktator – die Anforderungen an einen Reiseleiter sind vielfältig. Ein Seminar für angehende Reiseleiter klärt auf: über Rechte, Pflichten und Qualitäten  ■ Von Stefan Eggert

Frau Reinhardt – sie erinnert ein bißchen an die Schreinemakers – und Herr Peters sind gestandene Reiseleiter. Sie verheimlichen nichts. Sie lassen keine Illusionen und falschen Vorstellungen über den Beruf aufkommen. Sie lassen keine Frage unbeantwortet. Und sie schütten ein Füllhorn von Tips und Tricks und brauchbaren Informationsunterlagen über die Teilnehmer eines Seminars für angehende Reiseleiter aus. Die anfängliche Skepsis der Teilnehmer – meist Umsteiger aus anderen Berufen, Hausfrauen und arbeitslose Akademiker – verfliegt rasch.

Wer ist nun der Reiseleiter, welche Funktion hat er, was darf er, was muß er tun, was sollte er unterlassen, was kann er und was kann er nicht? Herr Peters versetzt die Zuhörer sogleich in praktische Situationen: „Der Reiseleiter steht natürlich im Mittelpunkt, alle Augen und Erwartungen richten sich zuerst auf ihn. Wenn etwas nicht klappt oder nicht den gebuchten Leistungen entspricht, so ist er der erste Ansprechpartner. Und nicht nur der Ansprechpartner, sondern auch Prellbock, Seelentröster und Objekt unterschiedlichster Begierden. Ist ein Gast erbost und kommt wutschnaubend an den Tisch des Reiseleiters, dann heißt es erst einmal: Ruhe bewahren.“ Herr Peters macht es vor: „Stehen Sie langsam auf und lassen Sie den Gast ausreden. Sehen Sie ihm dabei in die Augen oder, wenn Ihnen das unangenehm ist, zwischen die Augenbrauen. Widersprechen Sie nicht. Entschuldigen Sie sich schon gar nicht. Spätestens nach 90 Sekunden ist auch die längste Schimpftirade beendet und der Gast erst einmal erschöpft. Jetzt fragen Sie nach, wo sich das kalte oder mit Kakerlaken bevölkerte oder zu laute Hotelzimmer befindet, prüfen den Fall, versprechen aber nichts, denn zuerst müssen Sie Zeit gewinnen.“ Soviel zum psychologischen Ausbildungsteil.

Der Reiseleiter ist in erster Linie Angestellter, in zweiter Linie Prellbock. Die meisten Veranstalter gehen mit dem Reiseleiter nur zeitlich begrenzte Verträge ein. Und in dieser Stellung muß er Schaden, sprich: Reklamationen verhindern. Dafür hat er einen gewissen Spielraum. Ist eine Reklamation berechtigt und ist der Schaden schon geschehen oder kaum zu beheben, dann bietet er Ersatz an. Hauptsache, die Reklamation gedeiht nicht so weit, daß der Gast später Ansprüche geltend machen kann und gar Geld zurückfordert. In der Praxis: „Bieten Sie dem Gast für einen der nächsten Tage einen kostenlosen Mietwagen an oder eine Opernkarte oder so etwas. Nimmt er an, dann lassen Sie es sich schriftlich geben, daß er auf weitere Reklamationen verzichtet. Sie selbst unterschreiben nichts. Sie nehmen nur zur Kenntnis und zeichnen gegen.“ Der Veranstalter beurteilt die Qualität des Reiseleiters auch danach, wie viele oder, besser: wie wenige Reklamationen kommen. Darüber hinaus muß der Reiseleiter als Verkäufer tätig sein: Ausflüge, Mietwagen, Sonderführungen usw. Da das Gehalt oder das Honorar eines Reiseleiters nicht gerade üppig ist, ist er für Trinkgelder und materielle Zuwendungen empfänglich. Ein Trost: Reiseleiter müssen nur selten bezahlen, wenn sie ihre Reisegruppe in dieses Restaurant oder in jenen Souvenirladen lotsen. Sie werden dafür belohnt.

Ob denn nicht der Gast bzw. der Kunde König sei? fragen einige Teilnehmer. Herr Peters scheint über so viel Naivität zu lächeln, zeigt uns kurz darauf aber seinen „Sie-wollen-sich-doch-nicht-etwa- beschweren!-Blick“. Herr Peters macht deutlich: Kein Mensch ist so einsam wie der Reiseleiter, der ständig bedroht ist, zwischen Reisegruppe und dem Veranstalter zerrieben zu werden. Das macht ihn zum Menschenkenner, zum Dompteur und zum Kindermädchen für Erwachsene, zum Charmeur, zum Animateur und zuweilen zum Diktator. Stört ein Gast über die Maßen, dann kann der Reiseleiter den Gast von der Reise ausschließen. Auch der Gast hat Pflichten. „Lerne leiten, ohne zu leiden“, ist eine Devise des Seminars. Wer alles ausdiskutieren läßt, jedem Wunsch zuvorkommt oder gar bestimmte Programmpunkte abstimmen läßt, geht rasch unter. Die Reisegruppe will beherrscht sein.

Was kann nun aber der Gast von dem Reiseleiter erwarten? Ist er nur Teil einer anonymen und ständig wechselnden Masse? Frau Reinhardt übernimmt und verwandelt die Zuhörer in eine Reisegruppe:

„Der Reiseleiter ist in der Regel auf alles vorbereitet. Er bemerkt auch alles, und er bemerkt auch Sie, selbst wenn er Sie nicht namentlich anredet. Er merkt sich am Anfang der Reise ein paar Namen und spricht diese Personen auch wiederholt an, so daß der Gast glaubt, er könne jeden Namen auswendig. Der Reiseleiter paßt auch auf, daß Sie sich nicht zu sehr absondern oder allzusehr alleine bleiben. Er möchte durchaus, daß Sie sich wohl fühlen und am Ende eine gelungene Reise unternommen haben. Sprechen Sie frei, lesen Sie Ihre möglichst unauffällig verstauten Notizen bloß nicht ab. Wenn Sie etwas nicht wissen, geben Sie es ruhig zu. Die wichtigsten Bedürfnisse des Gastes sind seine körperlichen und sein Sicherheitsbedürfnis, zuletzt steht das Bedürfnis nach ideeller Selbstverwirklichung. Es ist also zuerst wichtig, zu erklären, wo sich die Toiletten befinden, bevor Sie einen kurzen Überblick über die romanische Kunst geben.“

Im Grunde wird der Reiseleiter immer für Sie da sein. Erst gegen Ende der Reise wird er die Zügel etwas schießen lassen. Dann kennt er seine Pappenheimer und hat die notorischen Querulanten im Griff, die schon mit gezückter Reklamationsliste den Bus oder den Flieger besteigen. So jemand wird dann schon mal nach dem Korkenzieherprinzip aus der Gruppe herausgezogen und vorgeführt. Ansonsten sind Sie gut aufgehoben. Schon beim ersten Kontakt mit Ihnen – meist wird ein kleiner Empfangscocktail gereicht – wird der Reiseleiter auf die Eigenheiten des bereisten Landes hinweisen. Er wird Ihnen verraten, welche Trinkgelder angemessen sind und welche nicht. Er wird Sie darauf hinweisen, daß Sie nicht halbnackt in Kirchen hineinlaufen. Er wird Sie davor warnen, in Afrika Elfenbein oder Elefantenfüße oder andernorts Drogen oder seltene Orchideen zu kaufen. Eines wird der Reiseleiter allerdings niemals tun: er wird Ihr Gepäck nicht tragen, und er wird Ihnen niemals seine Zimmernummer verraten.

Drei Tabuthemen gibt es, die der Reiseleiter nicht gerne mit Ihnen diskutieren wird: Politik, Religion, Krankheiten. „Und Sport“, ergänzt Frau Reinhardt. „Entschuldigen Sie sich nie“, schärft uns Herr Peters ein. „Sie geraten sonst ins Hintertreffen. Merken Sie sich einen Satz, der immer richtig ist: Es tut mir leid, daß Sie Unannehmlichkeiten hatten.“ Dabei schaut Herr Peters alle Seminarteilnehmer gleichzeitig an. Wie er das macht, konnte man auf diesem Seminar natürlich nicht lernen.