: Mobilmachung im Wald
Auf Tuchfühlung mit deutschen Gemütsbeständen beim Rennsteiglauf. Deutschland live: unerotisch, aber leistungsstark ■ Von Christel Burghoff
Der jugendliche Held dieses Tages ist schon über 60 Kilometer gelaufen. Er hat mehrere hundert Höhenmeter überwunden und solche Extremsteigungen wie am Inselsberg, der Schmalkalder Loibe oder dem Großen Beerberg hinter sich. Und immer noch joggt er locker über die Höhen des Thüringer Waldes, hält sich hart hinterm Auspuff des Motorrads, das ihm auf den letzten Kilometern zum Ziel im thüringischen Schmiedefeld den Weg freimacht. Hunderte von Wanderern sind aus dem dichten Wald auf die Laufstrecke eingeschwenkt. Vor dem strömenden Regen haben sie sich gut geschützt. Viele pellen sich nun aus ihrem Regenschutz und applaudieren. Der Held zeigt nackte Haut und dezente Muskeln. Im schwarzen Hemdchen und schwarzen Höschen rennt er triefnaß, aber telegen seinem Sieg im „Telekom-Supermarathon“ entgegen. Knapp 70 Kilometer Rennsteig schafft er in nur viereinhalb Stunden.
Eine beeindruckend gute Zeit. Ein Wanderer mit guter Kondition hätte dafür zwei Tage gebraucht. Und das selbst auf dem Rennsteig, auf dem man geradezu gewohnheitsmäßig rennt. Rentnerverbände und Sportvereine halten sich hier fit, der Läufernachwuchs übt. Im Sommer brettern Mountainbiker über die Höhenroute, im Winter wird sie von Skilangläufern befahren. Und romantische Waldläufer knüpfen an die Tradition der Gratwanderung an, denn auch früher wurde hier gerannt: Kuriere in geheimer Mission und kleine Truppenverbände sollen den Weg benutzt haben. Aber darüber weiß man nichts Genaues. An kein wichtiges Straßennetz der Vergangenheit angebunden, ist der Kammweg lediglich ein Grenzweg zwischen fränkischem und thüringischem Dialekt und folgt der Wasserscheide von Werra/Weser, Main/Rhein und Saale/Elbe. Die Reste der innerdeutschen Grenze samt Todesstreifen zeugen von der neueren deutschen Geschichte und die zahllosen verwitterten Grenzsteine von lange vergangenen Territorialkämpfen und Fürstenselbstherrlichkeit. Ein urdeutsches Kapitel: von der Werra bis zur Saale – auf 168 Kilometern. Hier könnte sich das „Wander- Gen“ herausgebildet haben, wenn es das denn gibt. Renner grüßen sich traditionell mit „Gut Runst“. Und zumindest das klingt wie ein Reflex aus vorgeschichtlichen Zeiten.
An Tagen wie heute sind alle Rennsteig-Fans da. Heute ist GutsMuths-Rennsteiglauf. Der Tag aller Renner- und Jogginganzüge, Turn- und Wanderschuhe, Vereinsembleme, Gamsbärte und Kniebundhosen. Was immer der Freizeitmarkt an Gehutensilien bietet – hier ist es vertreten: Turndress neben vielfarbiger Joggingkombination, rotweißgewürfelter Bayernchic neben Beige-in-Beige- Varianten wie seinerzeit bei Honecker. Denn Rennsteiglauf ist Volkssport, so heißt es hier, frei nach dem Patron dieser Veranstaltung, dem lange schon verblichenen Thüringer Aufklärungspädagogen Johann Friedrich Christoph GutsMuths. Auf Gemeindewiesen parkt Blech, sprich: Pkw an Pkw, hergekarrt aus allen Vereinsnischen dieser Republik. Nicht, daß man die Natur nicht liebte – doch bevor man sich darin ergeht, wird fröhlich die Umwelt vergiftet. Schon früh am Morgen ist allerorten Hochstimmung. In Neuhaus sind Tausende von Rennern zum „adidas-Marathon“ über 42,2 Kilometer unter den Klängen des Schneewalzers gestartet. Es soll so laut dabei hergegangen sein, daß auch die Schneeglöckchen einen neuen Rekordlauf einzuläuten schienen. Bereits um 7 Uhr war Startbeginn für den Supermarathon an der Hohen Sonne nahe Eisenach. Zur selben Zeit geht im Festzelt von Oberhof, dem Skisport- und ehemaligen Ausbildungszentrum für Spitzensportler der DDR, schon das eine und andere Schwarzbier über den Tresen. Man muß sich präparieren. Gut trainierte Mannsbilder entblättern sich im Festzelt und packen den Laufdress aus. Kein Hemd und kein Trainingsanzug ohne Vereinsabzeichen, kein Läuferfuß ohne eines der aktuellen Turnschuhmodelle. Von hier aus sind bis zum Ziel in Schmiedefeld gut 21 Kilometer zu bewältigen. Es ist der „Erdgas-Halbmarathon“. Daneben am Start: die Teilnehmer der Rollstuhlfahrerstrecke. Erstmalig wird die Zeit per Chip gemessen. Am Abend dieses Tages wird jeder, der irgendwie ins Ziel läuft, ein Sieger sein. Und sei es ein Sieger über die eigene Trägheit.
Was selbstredend für die „AOK-Wanderung“ gilt, die Oberhof kurz darauf verläßt. Von Gemächlichkeit keine Spur. Am Start überwiegend Senioren und Familien, eine Marschkolonne, die wie ein Tatzelwurm zum Großen Beerberg hinaufdrängt: 973 Meter Höhe werden locker genommen. Auf der Piste wird stetig geplaudert, Frauen verhandeln Alltagsthemen. Eine Oma läßt alle ihre Überredungsküste spielen, um ihren dicklichen Enkel am Umkehren zu hindern. Wer hier schnauft oder abfällt, gerät unweigerlich in die Fänge der Gruppendynamik. Wer will schon verantworten, daß die Kolonne aus dem Tritt gerät oder ausweichen muß.
„Das Laufen war für uns früher in der DDR so eine unserer Nischen“, erklärt ein aufrechter Weißhaariger seinen Mitwanderern. Stolz klingt durch. Mittlerweile ist diese Nische explodiert: An die 40.000 Menschen, Aktive und Besucher, haben sich an diesem Tag in den Wald gewälzt. Immerhin ist es ein Wald! Und noch ist es Deutschlands größtes zusammenhängendes Waldgebiet. „Deutschlands grünes Herz“, wie die Fremdenverkehrswerbung fast rührend verkündet. Trotz riesiger Fichtenmonokulturen, trotz Baumsterbens, Borkenkäfern, Eis- und Windbrüchen. Und trotz – oder gerade wegen – seiner freizeitgerechten Möblierung mit Hütten und Ruheplätzen. Rührige Vereinsaktive haben den Rennsteig nett hergerichtet. Das weiße „R“ auf den Baumstämmen und eine lückenlose Kette von Hinweisschildern auf bizarren Astgabeln sorgen dafür, daß – und das ist der Vorteil – sich niemand mehr verläuft.
Obwohl diese Gefahr eigentlich nicht mehr besteht: Seit er vor 100 Jahren als Wanderroute erschlossen wurde, ist der Rennsteig längst kein Steig mehr, sondern überwiegend eine breite, befahrbare Trasse. Und wo er zur Bundesstraße ausgebaut wurde, rennt der Renner auf den Pfaden entlang der Straßen, unüberhörbar vom Verkehrslärm geleitet. Wer da das genuine Waldgefühl sucht, der öffnet sich am besten dem Charme der Möblierung, im Wald wie im Gasthaus. Wo modernisiert wurde, hat die sogenannte rustikale Gemütlichkeit Einzug gehalten: vielfach verschnörkelte helle Hölzer, Typ Bauernstube, farblich mit dem Altrosa von Tischdeckchen, Servietten und Kerzen abgestimmt. Und drapiert mit dem Grün künstlicher Pflanzen. Selbst echte Baumstämme findet man in der einen und anderen Gaststätte allerdings mit falschem Blattgrün drapiert. Ob dabei die weise Vorausschau auf den sterbenden Wald am Werke war, darüber mag man spekulieren. Denn zur Realität des Thüringer Waldes gehören auch Pläne zu seiner unwiederbringlichen Zerstückelung: Eine Autobahn soll querdurch gebaut werden und außerdem eine Trasse für den ICE. Mit einer Klage versucht der BUND zu verhindern, was hier im Walde ernsthaft niemand mehr in Frage stellt.
In Schmiedefeld laufen seit dem Vormittag die Läufer aller wichtigen Läufe ein. 30 Minuten nach dem Held kommt der zweite Sieger ins Ziel. „Dabeisein ist doch alles“, kommentiert ein Familienvater am Bierstand und wiederholt damit brav das Motto der Veranstalter. Und dieses Motto gilt nicht nur für die Renner. Auch der Mitteldeutsche Rundfunk ist dabei und die Sponsoren: Telekom, Erdgas, adidas, Köstritzer Bier, AOK, Sparkasse und viele andere haben sich mit ihren Bauten und Lastkraftwagen ins aufgeweichte Schmiedefelder Sportfeld gefräst. „Einer Wildschwein-Suhle glich der Rasen“, schimpft die örtliche Zeitung später. Aber der Hochstimmung tut dies keinen Abbruch. Getreu dem anderen Motto des Massenspektakels: ein „Volksfest“ zu feiern, „das sich ein Stück regionaler Kultur und Heimatgeschichte bewahren will“.
Frenetischer Beifall für die erste Frau des Supermarathons, die im Ziel einläuft. Und steter Beifall für die sportlichen Senioren. Selten zeigen sie sich öffentlich so offenherzig mit ihren straffen Muskeln und der welken Haut. Deutschland live: unerotisch, aber leistungsstark. „Hier tummelt sich bunt das Volk“, hätte vielleicht Herr Goethe formuliert – aus dem sicheren Abstand der Berge, auf die er sich regelmäßig vor Volk und Alltag flüchtete. Unweit des Rennsteigs, auf dem Kickelhahn, dichtete er die ultimative Ode an den deutschen Wald: „Über allen Wipfeln ist Ruh...“ Doch vergeßt Goethe! Aus den Lautsprechern von Schmiedefeld tönen weit über die Höhenzüge des großen Waldes alles durchdringende Weisen von Herzilein und Schmerzilein und Äugelein wie Sternelein... Wenn nicht die Läufer begrüßt werden, dann wird gesülzt.
Oder zum Schunkeln genötigt. Denn abends wird im Schmiedefelder Festzelt die „Kloßparty“ gefeiert. Die „Fidelen Ansbachtaler“ heben zum Finale an: unverwechselbar bayrische Folklore bis ins stilechte Dirndl. Von Thüringer Klößen ist nichts zu sehen, die regionale Identität rettet allein die universelle Thüringer Rostbratwurst. Und das Schwarzbier. Allerdings ist das auch etwas Universelles, nämlich Bölkstoff zum seligen Wegtauchen in die Untiefen der konventionellen Fröhlichkeit. „Bei uns in Tirol“, „In München steht ein Hofbräuhaus“, „Ein Prosit der Gemütlichkeit“..., man hat sich das hart verdient. Mit Leistung, Sieg und Geselligkeit. Wer hier behauptet, die „Werte“ würden zerfallen, der lügt. Bernhard Vogel selbst, der Landesvater von der CDU, ist da. Er führt den „Prominentenlauf“ nach Schmiedefeld an. Und im kommenden Mai, wenn sich der GutsMuths-Rennsteiglauf zum 25. Mal jährt, dann wird die Provinz im Jubiläum prächtiger denn je erblühen. Schlammseligkeit hie, kaputter Wald da – Hauptsache, man hat dieses Gefühl dafür in sich. Ernst Jünger, ein Kenner des „eigentlichen“ deutschen Wesens und überzeugter Waldgänger, wußte es schon vor 40 Jahren ganz genau: „Was seinen Ort betrifft, so ist der Wald überall.“
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