Schriften zu Zeitschriften
: Rettungsboot am Kulturdampfer

■ Anmerkungen zum „Heinermüller“: ein Sonderheft von „Theater der Zeit“

Der Trauerfall als Volksbewegung – wer hätte das schon vergessen: Wie nach dem Tod von Heiner Müller am 30. Dezember 1995 im Berliner Ensemble die Leute zusammenliefen, wie sie tagelang immer wieder kamen zu Müller-Texten und Müller-Videos, wie sie viele waren und beisammen.

Das war mehr als der Abschied von einem Freund und Kollegen, mehr als der Abschied selbst von dem bedeutendsten deutschen Dramatiker der letzten Jahrzehnte. Es war – zumal für das östliche Publikum – wohl noch einmal ein Zusammentreffen im Geiste der alten, einenden Widersprüche zwischen Möglichkeit und DDR- Realität, Geist und Staat. Sich in diesen Tagen auszuklinken aus dem Alltag und in der Deutbarkeit der Müller-Worte zu versinken, war eine letzte Wurzelschau vor dem nun gültigen Abrutsch in die Beliebigkeit.

Heiner Müller, Dichter und Symbol. Ein Sonderheft der Zeitschrift Theater der Zeit, das als „Arbeitsbuch“ Texte von Freunden und Kollegen vereint, dokumentiert den doppelten Abschied aufs anschaulichste: „Die Krebserkrankung der Speiseröhre (war) Symptom des Ekels an den Verhältnissen, gegen die er, resistent gegen Verheißungen, aber nicht gegen Verblödung, keine Abwehrkräfte besaß“, schreibt Volker Braun. „Hat das hellsichtig Artikulierte, mithin Gewußte ihn selbst zu Tode gebracht?“ fragt der Musikwissenschaftler Gerd Rienäcker. Und Horst Drescher spitzt es zu: „Er ist gestorben mit diesem Staat.“

Wer sich hierzu in Beziehung setzen will, trifft immerzu auf seinesgleichen: „Bei vielen, jedenfalls aus unserer Generation, beginnt die Bekanntschaft mit Heiner Müller beziehungsweise seinem Werk ,überfallartig‘ mit der Uraufführung der ,Umsiedlerin‘ 1961. Wir waren gemeinsam dort als Beobachter von Theater der Zeit und ahnten nicht, was auf uns zukommen würde...“, beginnt etwa ein Gespräch von Martin Linzer mit Fritz Marquardt. Ersterer ist heute noch Redakteur der Zeitschrift, die das wichtigste Forum für Fragen des Theaters in der DDR war, letzterer ist bekanntermaßen Regisseur geworden.

Biographische Parallelen, Gemeinschaftserlebnisse in Müllers Pankower Wohnung oder Augenblicke wortlosen Verstehens irrlichtern durch viele Texte. Planken eines gemeinsamen Bootes, das als Bei- und Rettungsboot schwankend am großen Kulturdampfer festgemacht war. So bemerkt der in den USA lebende Literaturwissenschaftler Jost Hermand über ein Gespräch mit Parteifunktionären: „Daß sie Müller mit ,Heiner‘ anredeten, machte mir schlagartig klar, wie klein und vernetzt die Literaturgesellschaft in Ost-Berlin war.“

Ob von Rosemarie Heise oder Lothar Trolle, von Thomas Brasch oder Dieter Mann – Anmerkungen zum „Heinermüller“ (Andreas Koziol), zu seinen Frauen, seinen Stücken, seinem Theater. Erodiertes Damals und die Plaque des Heute: „Ich war nach Berlin gefahren, arm, alt, gramgebeugt, aber unruhig. Er saß in der Kantine des Berliner Ensembles, umgeben von der neuen Mafia“, schreibt Paul Gratzik, und bei Bert Papenfuß heißt es, aggressiver: „mordbrenner in volksbühne / wessi- lawine in BE-Kantine / promi- gedränge in ORB-latrine / laßt heiner müller ruhn.“

Indes, der biographisch-gesellschaftliche Komplex ist nur die halbe Wahrheit in der Auseinandersetzung mit Müllers Sterben. Denn Müller war ja nicht nur DDR-, sondern auch Weltdramatiker und führte als solcher vor allem ein „Zwiegespräch mit den Toten“ (Wolfgang Storch) zwischen Nibelungen und Wehrmachtsangehörigen und also: mit Schuldigen. „Der Punkt, auf den Müller zielt, ist die Enttarnung: Du bist der Täter! Judas, jetzt lebe.“ (Storch) Daß da kein Zyniker sprach, sondern einer, der „nicht bereit (war), über die Welt hinwegzusehen“ (Christoph Hein), darauf bestehen viele Autoren des Heftes. Und der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach collagiert Müller- Texte nutzanwendend mit Texten afrikanischer Politiker und Politologen zu einer Anklage gegen die Gleichgültigkeit.

Tatsächlich ein „Arbeitsbuch“ also. Aber vor allem doch ein Buch gegen die Angst, daß Müller (und damit die ganze DDR-Geschichte) nach seinem Begräbnis auch als begriffen gelten könnte. So heißt es bei Stephan Hermlin beschwörend: „Die Menschen, die sich seinetwegen versammelten, verspürten einen Verlust, den sie nicht ersetzen können, vielleicht aber auch etwas wie Reue, als hätten sie etwas versäumt.“ Petra Kohse

„Kalkfell“. 157 Seiten, 18 Mark, zu beziehen über „Theater der Zeit“, Podewil, Klosterstraße 68-70, 10179 Berlin