Lawrence, Eliot, Yeats etc.
: „Hurra dem Giftgas!“

■ John Careys Untersuchung über den „Haß auf die Massen“

Vor vier Jahren, als sein Buch „The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice among Literary Intelligentsia, 1880–1939“ erschien, gelang es Carey, seine akademischen Kollegen und das britische Feuilleton zu empören. Die provokative Materialsammlung über englische Literaten und Intellektuelle des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts erscheint dieser Tage in deutscher Übersetzung. Carey untersucht die Haltung von Autoren wie D. H. Lawrence, T. S. Eliot und W. B. Yeats zum gemeinen Lesepublikum. Seine Ergebnisse sind mit dem deutschen Titel „Haß auf die Massen“ durchaus auf den Punkt gebracht.

Mit der Vergrößerung des Lesepublikums am Ende des letzten Jahrhunderts entstand eine breite Nachfrage nach Zeitungen und Abenteuergeschichten wie Stevensons „Schatzinsel“ oder „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Ein Teil der arrivierten Schriftsteller reagierte verschnupft, was Carey mit vielen Beispielen belegt. T. S. Eliot etwa meinte, „Filme, Zeitungen, Werbung aller Art, kommerziell orientierte Romanliteratur bieten Befriedigung auf niedrigstem Niveau“. Die wohl extremste Phantasie gegen die degoutante Massenkultur und den von niederen Instinkten geleiteten Massenmenschen hat Carey in einem Brief von D. H. Lawrence aus dem Jahr 1908 gefunden: „Wenn es nach mir ginge, würde ich eine Todeskammer so groß wie den Crystal Palace bauen, in der leise eine Militärkapelle spielt (...); dann würde ich sie alle hereinholen, all die Kranken, die Lahmen und die Krüppel: Ich würde sie freundlich geleiten, und sie würden mir ihren müden Dank zulächeln.“ 1915 gibt er angesichts des Zustandes des modernen Menschen „ein dreifaches Hurra auf die Erfinder des Giftgases“ aus.

1926 wurde in in England eine sogenannte „Eugenics Education Society“ gegründet, die die selektive Beseitigung negativ auffälliger Massenmenschen auf ihre Fahne geschrieben hatte. W. B. Yeats war Mitglied, Bernard Shaw und Aldous Huxley sympathisierten. Fallbeispiele, die bei uns – so könnte man meinen – keine große Erregung hervorrufen werden, da sie doch lediglich eine Befindlichkeit aus einer vergangenen Zeit jenseits des Kanals beschreiben.

Erste Reaktionen auf Careys Buch allerdings zeigen, daß auch empfindsame Geister in deutschen Landen empfindlich getroffen werden können. Carey wird vorgeworfen, er sei seinem Thema nicht gewachsen, habe keinen methodischen Ansatz und biete lediglich eine Zitatenhäufung. Auf Careys Material wird nicht weiter eingegangen, man verliert auch kein Wort darüber, daß der englische Literaturprofessor zum ersten Mal Hintergrundmaterial für eine bundesdeutsche Diskussion liefert, die Botho Strauß' „Anschwellender Bocksgesang“ auslöste. Strauß schrieb in seinem Spiegel-Essay: „Die Intelligenz der Massen hat ihren Sättigungsgrad erreicht. Unwahrscheinlich, daß sie noch weiter fortschreitet, sich transzendiert und 10 Millionen RTL-Zuschauer zu Heideggerianern würden. Hellesein ist die Borniertheit unserer Tage. Die High-Touch-Intelligenz, alle immer miteinander in Tuchfühlung, unterscheidet nicht mehr zwischen Fußvolk und Anführern. Was einmal die dumpfe Masse war, ist heute die dumpfe aufgeklärte Masse.“ Diese Äußerung weist auf den zentralen Punkt von Careys Untersuchung: die Beschreibung einer zivilisationsmüden Attitüde bei den Intellektuellen, wie sie etwa auch in der Lust des Volksbühnenchefs Frank Castorf am „Atomgewitter“ oder in Günter Kunerts Beschwörung des kulturellen Super-GAU laut wird. Jürgen Berger

John Carey: „Haß auf die Massen. Intellektuelle 1880–1939“. Aus dem Englischen von Siegfried Kohlhammer. Steidl Verlag, 224 Seiten, 24 DM