Vorbei die Zeit des Zweifelns

Nach dem 2:0 über die Schweiz begibt sich Guus Hiddink, Trainer der Niederlande, heute entspannt auf die Tribüne von Wembley  ■ Aus Birmingham Peter Unfried (32)

Fünfundsiebzigtausend werden heute nachmittag (16 Uhr, ZDF) aufgewühlt nach Wembley kommen, um England gegen Schottland gewinnen zu sehen. Oder umgekehrt. Oder, was am wahrscheinlichsten ist, unentschieden spielen zu sehen. Es handelt sich jedenfalls um einen „gigantischen Clash“, wie Guus Hiddink (49) sagt. Dennoch wird der Trainer der niederländischen Fußballer „entspannt dasitzen und schauen“.

Kann er. Seit Donnerstag abend, kurz nach halb neun, läuft die Sache für die Holländer. Und ist die Zeit des Zweifelns vorbei. „In so einem Turnier“, sagt stellvertretend für alle Dennis Bergkamp, „braucht man ein erstes Tor.“ Es kam nach einer Stunde, als Pascolo einen Eckball von De Boer aus dem Strafraum, aber vor die Beine von Jordi Cruyff faustete. Jordi stoppte mit rechts, legte ihn sich mit rechts einen halben Meter vor, schoß mit links – und eilte umgehend in die Arme von Guus Hiddink. Es war sein erstes Tor für den KNVB und sollte, so Jordi danach, „all die Geschichten beenden“. All jene Zweifel an dem kleinen Sohn des großen Johan, der sich auch bei der EM „Jordi“ aufs Trikot pflocken ließ, um nicht Cruyff sein zu müssen.

Bergkamps 2:0 nach einem gedankenschnellen Abschlag von Torhüter van der Sar war das größere Erlebnis – die Entscheidung aber brachte Jordi. Er hat dem Team jenes Tor geschenkt, auf das es so nervös gewartet hatte. „Ich wußte, daß er es kann“, sagte sein Trainer. „Es ist wichtig für unser Konzept, daß einer von beiden Flügeln spielen kann und dann zur Mitte gehen und treffen.“

Es war dies möglicherweise sogar ein Erfolg der besseren Fußballer gegen die bessere Taktik. Die Schweizer, sagte Hiddink halb anerkennend, seien „ein cleveres Team“. Mit ihrem Dreimannsturm zwangen sie zunächst Clarence Seedorf in eine Manndeckerrolle gegen den wuchtigen Grassi, dann sogar vom Feld. Seedorf, bereits verwarnt, kam nach einem rüden Foul gegen Türkyilmaz beim bulgarischen Schiedsrichter Ouzounow davon, nicht aber bei Hiddink. Nach 26 Minuten kam De Kock, und Holland hatte drei Manndecker plus den ins Team zurückgekehrten Kapitän Blind hinten drin. Es hat sich dann gezeigt, daß das Team dennoch Fehler macht, wenn der Gegner mutig genug ist, es zu versuchen.

Sagen wir so: Im Gegensatz zu den Schotten war die Schweiz mit dem omnipräsenten Sforza innerhalb ihres Systems mutig. Und hatte Pech: Seedorf wurde nicht vom Platz gestellt. Marc Hottiger traf nach 47 Minuten nicht, als Grassi an Blind vorbeigehuscht war und in die Gasse gespielt hatte. „Gegen so einen Gegner mußt du deine Chance nutzen, wenn du eine hast“, philosophierte Trainer Artur Jorge (50), der seiner Mannschaft bescheinigte, „den Gegner vor arge Schwierigkeiten“ gestellt zu haben.

Den Unterschied zwischen den Teams hat dann Dennis Bergkamp beschrieben. Der Mittelstürmer agierte diesmal eine Klasse besser als gegen die Schotten, voller Lust und Energie. „Wenn du so spielst wie wir heute“, sagte er, auf die vergebenen Chancen in der ersten Stunde angesprochen, „brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du wirst weiter Chancen haben.“

Das ist Holland in diesen Tagen. Man muß die Sehnsucht, die an dieses EM-Turnier geknüpft ist, nicht die nach „totalem Fußball“ nennen. Einfach „Fußball“ genügt. Die Schweiz spielte klug, die Holländer spielten Fußball. „So wollen wir immer spielen“, sagt Hiddink, „Fußball, aber mit einem Ergebnis.“ Allerdings, so sieht es aus, werden sie hinten, trotz oder mit Blind, schon noch ihre Gegentore kriegen. Doch die meisten werden vorne fallen. Da ist man mit Peter Hoekstra auf Linksaußen nun noch stärker geworden, und kommen Witschges raffinierte Pässe in den Lauf und über den Kopf des Gegners häufiger und präziser. Und Patrick Kluivert kam gar erst, als alles gelaufen war.

So findet sich also Guus Hiddink heute in Wembley ein. Und weil die Engländer und Schotten – notgedrungen – Weltmeister im Kalkulieren sind, fragt man ihn nun ständig, wie das Spiel ausgehen soll. Er enttäuscht sie: „Wir kalkulieren nicht“, sagt er, „wir wollen unsere Spiele gewinnen.“

Als die glücklichen orangefarbenen Menschen längst in ihren Bussen oder im nächsten Pub saßen, stand im Licht der Kamerascheinwerfer Johan Jordi Cruyff (22) und beantwortete die brennenden Fragen, die ein glühender Abend zu Birmingham offenbar offengelassen hatte. „Ich habe dieses Tor dringend gebraucht“, sagte er, „für mich und meine Zukunft.“ So redete Jordi, und man hing an seinen Lippen, bis plötzlich ein anderer Mann des Weges kam, kurz herüberschaute und dann schnell davon wollte. Einer erwischte ihn. Und eben doch nicht. „Ich sage nichts“, sprach Johan Cruyff.

Was hätte er sagen können? Jordi ist jetzt auch Cruyff? Wenn das der EM kundgetan werden mußte, war es auf dem Rasen von Villa Park längst erledigt worden.

Niederlande: van der Sar - Reiziger, Blind, Seedorf (26. de Kock), Bogarde - Ronald de Boer (80. Davids), Winter, Witschge - Jordi (85. Kluivert), Bergkamp, Hoekstra

Zuschauer: 39.000

Tore: 0:1 Cruyff (66.), 0:2 Bergkamp (79.)

Schweiz: Pascolo - Jeanneret (69. Comisetti), Vega, Henchoz, Quentin - Hottiger, Vogel, Sforza - Türkyilmaz, Grassi, Chapuisat