■ Schöner Leben
: Leschäär

Wo ist noch, wo hab ich noch – da wandert man durch die Stadt, ein Zigarettchen will angebrannt werden, und partout läßt sich nicht diese halbvolle Schachtel finden, die doch gerade noch... Das kennen alle armen schwachen Menschen. All die kennen diesen Drang, der schnurstracks zum nächsten Kiosk führt (wobei der Bremer Wortschatz unbedingt durch das allerliebste Frankfurter Idiom „Wasserhäusje“ angedickt werden soll). Also, man geht zum Wasserhäusje, zu dem man immer geht, und da wartet das Mikrodrama. Das heißt, die Chancen auf das Drama stehen 1:3. Die Wasserhäusje-Combo ist nämlich in streng nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Wechselschichten organisiert. Eine Frau, ein Mann und er. Man ahnt schon, „er“ ist da.

Erster Akt. Es tritt auf: Der arglose Süchtige. „Ich hätt' gern' ne rote Gauloises.“ Und das Unvermeidliche nimmt seinen Lauf. Ein rotes, leicht angefettetes Gesicht erscheint in der Wasserhäusje-Luke, daraus zwei trübe Äuglein aus dicklichen Liderwulsten fragend gucken. Bitteschön, dann eben nochmal: „'Ne rote Gauloises, bitte.“ Das Gesicht wendet sich ab zum Suchtschachtelbord. Und dann kommt's: „Leschääär?“ – „Jaja, légères.“ – „Heißt nämlich leschääär!“ Die Zigaretten werden gereicht, das Geld geht über 'n Tresen. Das war's eigentlich schon.

War's das? Von wegen. Zweiter Akt: rotes Gesicht – rote Gauloises – leschäär – jaja, légères – heißt nämlich leschäär – Zigaretten – Geld – Abgang. So war's, ich schwör's. Der zweite Akt war wie der erste und der dritte und der vierte undsofort.

Jedenfalls, man kann Gefallen dran finden, so hätte das Leben munter weitergehen können. Darben wir denn nicht alle nach Stabilität, nach Ritualen, die die Unübersichtlichkeit der Moderne ein bißchen übersichtlicher machen, das Leben strukturieren, irgendwie? Na also! So ging es eine ganze Weile, wenn, ja wenn nicht der Hang zur Zerstörung gerade dieser Rituale immer wieder mit unsereinem durchgehen würde. Aber manchmal, und das ist gut so, zerschellt der Teilzeitrebell an der Wirklichkeit.

Das spielte ungefähr bei Akt 15. Wasserhäusje – rotes Gesicht – aber dann, mit pochendem Herzen und im astreinen Schulfranzösisch: „Ich hätt' gern 'ne Gauloises légères.“ Der Blick geht zum Schachtelbord, geht wieder zurück, fragend und mit einer unendlichen Traurigkeit, die dem vorwitzigen Kunden plötzlich das Herz zerreißen möchte. Der will der Seelenrettung (vor allem der eigenen) wegen noch schnell ein munteres „rote Gauloises“ hinterherrufen, da aber hellt sich der Blick auf wie nie zuvor. Ein großes Verstehen liegt darin, dann kommt's: „Leschääär?“ Und ohne die Antwort abzuwarten wird die Schachtel herübergereicht. „Die heißen nämlich leschäär!“

Diese Freude, dieser plötzliche Gleichklang der Seelen. Nie wieder werd ich's wagen, einen Mißton am Wasserhäusje zu singen. Ab heute immer: rote Gauloises. Und das Rauchen wird erst unterlassen, wenn der Mann in Rente ist.

Jochen Grabler