„Die Jungen sind ideologisch unbefleckt“

■ Friedensaktivist Mordechai Virshubski zur Wahl in Israel / Seine Partei, „die Grüne“, hat verloren

Er gilt als einer der Großen der Friedensbewegung in Israel. Mordechai Virshubski ist 1930 in Leipzig geboren und kam mit acht Jahren nach Israel. Dort war er lange für verschiedenste Menschenrechts- und Friedensorganisationen Mitglied der Knesset, dem israelischen Parlament. Virshubskis Partei „Meretz“ ist ein Zusammenschluß von linken PolitikerInnen und gilt als ,die Grüne' innerhalb des Parteienspektrums. Seit 1992 ist Mordechai Virshubski nicht mehr im Parlament, er wurde Stadtverordneter von Tel Aviv und Kulturdezernent. Kurz nach den Wahlen in Israel war Virshubski auf Einladung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Bremen und gab in seinem Referat „Hundert Jahre dauert der Weg zum Frieden“ eine Einschätzung der Wahlergebnisse. Mordechai Virshubski im Interview mit der taz.

taz: Die zentrale Frage nach der Wahl: Ist der Friedensprozeß in Israel gefährdet?

Mordechai Virshubski: Das ist schwer einzuschätzen. Ich glaube, es gibt gute Chancen, daß der Friedensprozeß weitergeführt wird. Erstmal hat Netanjahu das versprochen, und er ist persönlich interessiert, daß er in seiner Rolle als Premierminister Erfolg hat. Ohne die Fortsetzung des Friedensprozesses wird er den nicht haben. Die Amerikaner, die in den Friedensprozeß sehr viel investiert haben, sind sehr daran interessiert. Die arabischen Länder, die mit Israel verhandeln, sind am Frieden interessiert. Ich glaube auch, daß Europa daran interessiert ist. Und schließlich ist auch die israelische Bevölkerung am Ende daran interessiert. Trotz des Terrors und der Angriffe und der Befürchtungen haben sie im großen und ganzen gesehen, daß der Friedensprozeß gute Resultate bringen kann. Der Frieden mit Jordanien ist gut. Einige Botschaften von arabischen Staaten sind in Israel eröffnet worden. Das heißt: Israel entwickelt langsam ein normales Verhältnis mit der arabischen Welt. Das sind alles Resultate des Friedens.

Wenn ich das alles zusammennehme – das gibt mir die größte Hoffnung. Warum ich aber nicht vollständig positiv sein kann, das liegt daran, daß immer noch sehr viele Schwierigkeiten bestehen: Die Probleme von Jerusalem, die Golan-Höhen, die Sperre, die Siedlungen. All diese Probleme sind außergewöhnlich schwer. Und sogar wenn Netanjahu sie lösen wollte, hat er solche Partner in seiner Partei und außerhalb der Partei, die ihn zurückhalten und stören würden. Ich glaube ihm, daß er Frieden will, aber ich weiß nicht, wie er das machen will. Es gibt große Chancen, aber ich kann noch nicht hundertprozentig ruhig schlafen. Aber ich bin nicht niedergeschlagen vom Ausgang der Wahlen. Ich bin besorgt und unzufrieden, aber nicht total hoffnungslos. Im Gegenteil.

Das Wahlergebnis war verblüffend. Wo liegen die Gründe dafür?

Der Unterschied zwischen den Kandidaten war sehr klein. Jede kleine Sache konnte tausende von Stimmen bringen. Erstens: die religiösen Parteien und ihre Wähler. Die haben zu 90 Prozent für Netanjahu gestimmt wegen eines Abkommens ihrer Parteien mit Likud. Bei den ultraorthodoxen Parteien ist alles, was der Rabbi sagt, ein Befehl. Wenn die Rabbiner für Netanjahu gestimmt und das öffentlich gesagt haben, dann hat das viele beeinflußt. Das sind Hunderttausende. Die Araber haben zwar zu 95 Prozent für Perez gestimmt, aber immerhin fünf Prozent haben Netanjahu gewählt, und eine große Zahl hat sich der Stimme enthalten. Der Wahlkampf von Likud war sehr effektiv. Sie haben die ganze Zeit gehämmert: Perez wird Jerusalem verkaufen, und es gibt keine persönliche Sicherheit, trotz der Konzessionen an die Araber. Das hat die israelische Seele sehr berührt. Jerusalem ist auch für sehr sekulare Israelis ein heiliger Begriff, und die Terroranschläge hatten einen riesen Einfluß auf die Wahl. Ohne das wäre der Unterschied zwischen Perez und Netanjahu so groß geblieben wie nach dem Mord an Rabin, um die 25 Prozent.

Ihre Partei gilt als ,die Grüne' innerhalb des Parteienspektrums. Wo steht diese in dem Kräfteverhältnis?

Sie hat leider drei Sitze verloren. Aber wir werden als radikale Friedenspartei sowieso in der Opposition sein. Es wäre gar nicht möglich, mit Likud in einer großen Koalition zu sein. Wir werden entweder die große Opposition sein, wenn die Arbeiterpartei in die große Koalition geht, oder wir werden gemeinsam mit der Arbeiterpartei eine kleine Koalition machen. Auf alle Fälle stellen wir uns auf einen langen Kampf für unsere Ideen ein. Wir sind schon so lange in der Opposition. Ich bin 1977 in die Knesset gekommen. Und in 15 Jahren Parlament waren wir nur für eine kurze Periode in der Regierung. Man kann auch in der Opposition viel tun. Man kann hauptsächlich aufpassen, daß die Idee des Friedens und der Menschenrechte, die unteilbar zwischen Juden und Arabern sind, lebendig bleiben.

Gibt es einen Wandel in der israelischen Gesellschaft, der zu diesem Wahlergebnis geführt hat?

Wenn es keine große Koalition geben wird, dann wird es einen starken traditionell-religiösen Einfluß auf die Regierung geben. Das heißt, daß fortschrittliche Gesetze zurückgehalten werden. Man wird mehr nach den Gesetzen der Religion handeln als nach den Gesetzen eines modernen demokratischen Staates. Das kann sich sehr schlecht auswirken.

Konkret: Was wird diskutiert?

Lange Jahre wird schon darüber geredet, daß man auch standesamtlich heiraten können soll, daß der Zivilstatus für Menschen nicht nur durch den religiösen Status für Juden geregelt werden soll. Das haben wir nicht, das wollen wir haben. Außerdem: Die Frau wird nach diesen jüdischen Gesetzen nicht mit dem Mann gleichgestellt. Das ist für uns ein sehr heikles Problem. Und drittens: Wir wollen endlich unsere Verfassung haben. Wir haben keine vollständige Verfassung, da sind große Lücken gerade bei der Verankerung bei den Bürgerrechten. Das wollten wir durchführen. Das werden die religiösen Parteien verhindern. Die werden sagen, daß wir keine Verfassung brauchen. Wir haben ja den Talmud.

Welche Rolle spielen dabei die NeueinwanderInnen?

Bei den Wahlen von 1992 haben die Neueinwanderer mehr oder weniger wie die allgemeine Bevölkerung gewählt. Durch die Abänderung des Wahlgesetzes haben die Neueinwanderer diesmal anders gewählt: der größte Teil für Netanjahu, der kleinere für Perez, und bei der Zweitstimme für das Parlament haben sie gesagt, daß sie ihren Kram alleine machen wollen. Offensichtlich waren sie nicht so überzeugt, daß die alteingesessenen Parteien die Interessen der Neueinwanderer vertreten. Sie wollten ihre eigenen Leute haben.

Das ist zwar ihr gutes Recht, aber für die allgemeine Entwicklung ist das schlecht. Ich habe gedacht, daß sie sich mit der Gesellschaft verschmelzen würden. Daß das nicht passiert ist, das kann in der Zukunft ziemliche Probleme geben. Aber man muß schon zugeben, daß wir uns in der Vergangenheit zu wenig um die Probleme der Neueinwanderer gekümmert haben.

Mit Netanjahu kommt eine neue Generation von Politikern an die Macht. Heißt das, jetzt schwimmt der Traum von Israel als ein anderer Staat, nicht nur als der Staat der Juden, weg? Und damit der Zionismus als Utopie?

Ich möchte das anders definieren. Daß Perez, der 73jährige Politiker, nach 35 Jahren im Parlament nach Hause geht, macht mich nicht besorgt. Daß Virshubski nach 15 Jahren im Parlament nach Hause geht, das hat ihn vielleicht betroffen gemacht, aber das ist nicht so schlimm. Aber daß die jetzige Generation zwar sehr effizient ist, aber in der Ideologie fast unbefleckt, das ist eine Tragödie. Ich glaube, daß Ideologie in der Politik sehr sehr wichtig ist. In meiner eigenen Partei werde ich deswegen schon angesehen wie ein Dinosaurier. Natürlich muß man immer Politik machen, und nicht immer kann man wie ein Mönch oder wie ein Heiliger sein. Man muß nicht immer nach den anständigsten Regeln leben. Aber ein Minimum von Anständigkeit und ein Minimum von Ideologie muß da sein. Und ich glaube, daß in der neuen Politik viel davon verloren geht. Das ist das Problem. Nicht, daß neue Menschen kommen.

Eintreten für Ideologien heißt immer Eintreten für ein Wertesystem. Was wandelt sich da in der Gesellschaft?

Wenn ich auf die Politik sehe, dann ändert sich zum Beispiel das: Man sagt jetzt, die Hauptsache ist eine intakte Erziehung. Ob wir ideologisch richtig handeln, ob wir uns anständig benehmen, das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß wir die Wahlen gewinnen, daß unsere Leute in die richtigen Positionen kommen – aber nicht die Frage, ob wir für die richtigen Ideen kämpfen, und ob wir sie auch so umsetzen, daß es nicht noch schlimmer wird.

Wenn Sie Werte sagen, dann möchte ich Ideologie, aber auch Menschlichkeit haben. Man muß verstehen, daß in der Politik Menschlichkeit von großer Wichtigkeit ist. Das ist auch ein Wert.

Fragen: Susanne Raubold