Radikalität auf marxistischer Grundlage

Berliner PDS diskutiert Strategien für den Aufbau der Partei in Westberlin. Obwohl viele Genossen die Westausdehnung für schon gescheitert halten, will die Landesvorsitzende alles oder nichts  ■ Von Christoph Seils

Die Gesichter der Genossen waren vom Ausflug zum „gewerkschaftlichen Sommerfest in Bonn“ noch gezeichnet. Natürlich, wenn sich die Arbeiterklasse gegen Sozialabbau und Neoliberalismus erhebt, dürfen Sozialisten nicht fehlen. Müde, aber dennoch mit revolutionärer Disziplin trafen sich rund siebzig Berliner PDS-Mitglieder gestern am Tag danach zur Beratung über den Westaufbau der Partei.

Die Demokratischen Sozialisten in Kreuzberg, Steglitz oder Zehlendorf haben es nicht leicht. Die Wähler im Westteil Berlins haben bei den Wahlen im vergangenen Oktober entschieden, daß sie die PDS nicht brauchen. Inzwischen mehren sich auch innerhalb der Partei Stimmen, die die Westausdehnung der PDS nicht nur für gescheitert erachten, sondern die auch dafür plädieren, die PDS möge sich zur ihrem Charakter als ostdeutsche Volkspartei bekennen und sich aus dem Westen zurückziehen.

Die nüchternen Zahlen geben den parteiinternen Kritikern der Westausdehnung recht. Von den fast 22.000 PDS-Mitgliedern in der Hauptstadt kommen lediglich knapp 500 aus dem Westteil. Bei den Abgeordnetenhauswahlen im vergangenen Oktober erhielt die PDS im Osten als stärkste politische Kraft 36,3 Prozent, im Westen hingegen nur 2,1 Prozent der Wählerstimmen. Anders ausgedrückt: Die PDS hat in Westberlin so viele Wähler wie in Ostberlin Mitglieder.

Doch die Berliner PDS will den Westaufbau nicht aufgeben. „Die PDS wird als Gesamtberliner Partei gebraucht oder bald überhaupt nicht mehr“, so hatte die PDS-Landesvorsitzende Petra Pau schon zu Beginn der Konferenz ihr einziges Ergebnis vorweggenommen. Nicht die Westausdehnung sei gescheitert, so Petra Pau, sondern der Glaube, die PDS könne „im ICE- Tempo in den Westen exportiert werden“.

Langsam soll es also aufwärtsgehen. Auch im Westteil der Stadt soll die Fahne des Demokratischen Sozialismus weiter wehen. Sei es auch nur deshalb, weil man allein in Marzahn den Sozialismus eben nicht einführen könne, wie eine Genossin mit scharfem analytischem Verstand bemerkte.

Der Frust unter den Westgenossen ist groß. Alten Zeiten trauert man nach, Westalgie macht sich breit. Wobei allerdings die einen daran erinnern, daß die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) einst immerhin stolze 4.500 Mitglieder zählte, und die anderen nicht vergessen können, daß die undogmatische Linke in der Frontstadt in den siebziger und achtziger Jahren zu machtvollen Demonstrationen mobilisieren konnte. Doch viele Mitstreiter von einst sind zusammen mit den Grünen vom Glauben abgefallen, der Rest hat sich zerstritten.

Wie sollte es daher anders sein, daß sich die Genossen bei den Rezepten, die den etablierten Parteien im Westen die Suppe versalzen sollen, nicht einig waren. „Wir müssen an die Alltagssorgen der Westberliner heran“, forderte Landesvorstandsmitglied Wolfgang Krüger. Dafür müsse die Partei ihr Engagement an der Basis in den Bezirken verstärken. Der Ex- SPDler Michael Henke sieht die Chancen der PDS in Westberlin viel pessimistischer. Die Partei des Demokratischen Sozialismus habe dort „kein politisches Hinterland“. Ihr fehlten starke soziale Bewegungen und ein linkes Milieu. Die „aktionsbereiten politischen Potentiale“ in Westberlin stünden unter grüner Hegemonie. Die PDS müsse, so ergänzte der Kreuzberger PDS-Aktivist Michael Prütz, ihre Kampagnenfähigkeit verbessern und in den kommunalpolitischen Auseinandersetzungen präsent sein.

„Was verstehen wir unter sozialistischer Politik in den Bezirken?“ wollte eine Genossin wissen. „Was ist linke Stadtentwicklungs- oder Baupolitik?“ Fragen, die niemand beantworten konnte oder wollte. Die meisten Westgenossen mochten sich mit so irdischen Problemen wie der Kommunalpolitik nicht abgeben. Zumal die Partei keine Antwort auf die globalen Probleme habe und die PDS statt dessen im Ostteil der Stadt, so das Ex-Mitglied des Abgeordnetenhauses, Sigrun Steinborn, immer häufiger auf die „Reformierbarkeit des Systems“ setze und dabei dem „Genossen Sachzwang“ erliege. Radikalität sei dagegen angesagt, natürlich auf „marxistischer Grundlage“. Die PDS müsse endlich, so forderte ein erregter Genosse aus Schöneberg im besten realsozialistischen Kaderdeutsch, die „Einheit von Theorie und Praxis“ wiederherstellen.

Nur Wolfgang Grabowski aus Friedrichshain verstand die ganze Aufregung nicht. Schließlich habe das letzte Maifest der Bezirksorganisationen Friedrichshain und Kreuzberg gezeigt, wie sich die PDS-Mitglieder aus Ost und West näherkommen könnten. „Es war kein Weltrevolution voranbringendes Ereignis“, bemerkte der Genosse durchaus selbstkritsch, „aber es hat Spaß gemacht.“