SPD unter 5 Prozent

Krisen bieten Chancen. Das ist nicht nur ein Schlagwort. Seit dem Wiederaufbau, dem Wirtschaftswunder und dem KdF-Wagen für alle war es auch in Berlin noch nie so einfach, Reichen das Geld wegzunehmen und dadurch die Welt ein wenig gerechter und erträglicher zu machen. Weil der Staat und die Stadt kein Geld mehr haben, wäre es ein leichtes, Studiengebühren in Höhe von 1.000 Mark für Kinder einzuführen, deren Eltern mehr als 70.000 Mark im Jahr verdienen. Die ohnehin aussterbenden „Arbeiterkinder“ dürften im Gegenzug umsonst studieren. Das wäre sozial. In der Schule könnten die Regelstunden statt der Förderstunden gekürzt werden. Das wäre gerecht. Mehr solcher Vorschläge aneinanderzureihen brächte Spaß und wäre dabei nicht einmal revolutionär, sondern nur sozialdemokratisch.

Doch auch die Sozis haben sich fettgefressen an einem bis zum Platzen gemästeten Westberlin und leiden nun an Ideenlosigkeit im Hirn, weil ihr Blut noch immer im Magen beschäftigt ist. Die Stimmung auf dem gestrigen Parteitag war schlecht wie immer. Viel schlimmer ist, daß nicht ein Redner die Chancen dieser Tage erkannte. Trösten kann einen, daß die Krise Jahre dauern wird und auch die gutverdienenden Grünen oder die paralysierte PDS somit genug Zeit haben, das Thema soziale Gerechtigkeit für sich zu entdecken und tatsächliche Umverteilung zu fordern. Linke Sozialdemokraten forderten gestern zwar „Kampf dem Kapital!“, ohne aber mit diesem verstaubten Schlachtruf etwas anfangen zu können. Es dauert nicht mehr lange, dann lautet eine Schlagzeile: SPD deutlich unter 5 Prozent. Dirk Wildt

Siehe Bericht auf Seite 22