Hausmeister des Überwirklichen

Sachlich, nie spekulativ: Eine Biographie zum verpaßten Jubiläum André Bretons, dem Kaffeehaus-General des Surrealismus. Tribunale, Protokolle und Ausschlußverfahren pflasterten seinen Weg  ■ Von Peter Michalzik

Damals, als wir das erste Mal als Schüler nach Paris gefahren sind, war Breton schon gut zehn Jahre tot. Trotzdem gehörte er für uns neben Sartre und Moulin Rouge, Eiffelturm und Belmondo irgendwie zu dem mythischen Unterbau, der uns diese Stadt so verheißungsvoll erscheinen ließ. Breton war der Anführer der Surrealisten gewesen, das wußten wir, weil wir es im Unterricht gelernt hatten, was uns erstaunlicherweise den Surrealismus nicht vermiesen konnte. Breton, das war am Ausgang der Siebziger ein Grenzpfosten: So weit hat damals der Unterricht die Kunstgeschichte an die Gegenwart herankommen lassen.

Mark Polizzotti hat jetzt zum hundertsten Geburtstag ein Buch über André Bretons 70jähriges Leben geschrieben. Polizzotti ist Amerikaner, offensichtlich geschult am faktenorientierten Journalismus seiner Landsleute, die er denn auch eifrig sammelt (die Fakten): Sein Buch ist mal detailfreudig, mal detailversessen, immer sachlich, immer distanziert, nie spekulativ, nie visionär. In seinen Urteilen und Einschätzungen ist es etwas hausbacken, was einen netten Kontrast zum auf Visionen und Übernatürliches geradezu versessenes Leben seines Darstellungsgegenstands ergibt; Liebe zu demselben, auch wenn unzweifelhaft vorhanden, läßt das Buch nur ahnen.

Gewissensthemen

Polizzotti verarbeitet neues Material, er konnte Bretons Korrespondenz einsehen, obwohl dieser testamentarisch verfügt hatte, daß sie nicht vor 2016 veröffentlicht werden darf – 50 Jahre nach seinem Tod, 120 Jahre nach seiner Geburt. Charakteristisch für Polizzottis Detailgenauigkeit ist der Anfang seines Buches. Hier belegt er, daß der kleine André am 19. Februar und nicht, wie vom erwachsenen Breton verbreitet, am 18. Februar zur Welt kam. Der 18. war der Geburtstag seiner ersten Liebe gewesen, astrologisch gesehen günstiger, und brachte ihn in Datumsnähe zu berühmten Dichterkollegen. (Die taz ihrerseits hat sich souverän über beide Daten hinweggesetzt.)

1926, zwei Jahre nach Gründung des Surrealismus, versammelten sich die Gefolgsleute des Überwirklichen, um ihre Beziehung zum Kommunismus eingehender zu definieren und um über den kollektiven Beitritt zur Kommunistischen Partei zu beschließen. Antonin Artaud weigerte sich, seine Position in bezug auf Ökonomie und Gesellschaft zu definieren, er bezog einen individualistischen Standpunkt. Artaud wurde deswegen als Konterrevolutionär beschimpft, und Breton forderte ihn auf, seine Worte, daß der Kommunismus ihn anwidere, zu rechtfertigen. Darauf Artaud: „Ich brauche mich nur vor mir selbst zu rechtfertigen.“ Breton: „Wollen Sie alle en bloc kritisieren?“ Artaud: „Die Frage interessiert mich nicht.“ Breton stellte daraufhin fest, daß mit Artaud keine Diskussion möglich sei, aber irgendwie kam in der Runde doch noch das Gewissensthema auf. Breton versicherte, er glaube an Artauds Aufrichtigkeit. Artaud erklärte jede Revolution, surrealistisch oder kommunistisch, für schwachsinnig, auch sein eigenes Theater Alfred Jarry. Breton: „Sie sind ein Konterrevolutionär.“ Artaud: „... für Sie, und Sie genauso für mich.“ Breton: „Ist mir egal.“ Artaud: „Mir ist es erst recht egal.“ Péret: „Ich beantrage, über Artauds Ausschluß abstimmen zu lassen.“ Breton: „Ja gut, aber ich möchte, daß die heute abend beschlossenen Ausschlüsse wirklich bindend sind, und das heißt, daß der ausgeschlossenen Person unter keinen Umständen die Hand geschüttelt wird. Von keinem von uns.“

Später nahmen die beiden Kontrahenten die Verbindung trotz dieser harschen Worte wieder auf. Mit Antonin Artaud verband Breton eine lebenslange, vielschichtige und widersprüchliche Beziehung. Offensichtlich Angst machte ihm später Artauds Wahnsinn. Hitler habe den Krieg begonnen, um ihn aus der Psychiatrie zu befreien, glaubte Artaud. Der einigermaßen bürokratischen Protokollführung der Surrealisten verdanken wir, daß sich die Auseinandersetzung von 1926 so genau nacherzählen läßt. Bei Polizzotti ist sie eigenartigerweise nicht erzählt. Tribunale bestimmten den Surrealismus und das hier Wiedergegebene; Polizzotti erzählt das etwas anders, die hier wiedergegebene Darstellung stammt aus den Archives du Surréalisme.

Vielleicht weil er die Grabenkämpfe früh austrug, hatte Breton Zeit genug, ein erbitterter Gegner des Stalinismus und des sozialistischen Realismus zu werden. Aragon, erst Gefolgsmann des Surrealismus, dann des Kommunismus, wurde von Breton abgelehnt, wie sonst niemand. Trotzdem schrieb Aragon den ergreifendsten Nachruf auf seinen früheren Freund. Wie uneindeutig die Geschichte ist, dafür bietet Polizzottis Buch viele Beispiele.

Es beläßt Breton so in einer angemessenen Schwebe. Ob seine rücksichtslosen Verbannungen und Geißelungen von Gruppenmitgliedern, die von der offiziellen Linie abwichen, wirklich intellektuellen Differenzen oder gekränkten Eitelkeiten, ob sie dem Wille zum Zusammenhalt oder der Verteidigung der Führungsposition entsprangen, läßt sich eh nicht klären. Daß Breton in seinem hausmeisterhaften Eifer für diese Gruppe irgendwie auch lebenslang infantil blieb, daß auch die Avantgardebewegungen, mindestens vor dem Zweiten Weltkrieg, wahrscheinlich aber bis heute, auch etwas Unausgebrütetes haben, deutet Polizzotti mit keinem Wort an, seine Darstellung legt das aber an mehreren Stellen nahe, etwa wenn Breton in Kontakt mit Freud tritt oder er sich mal wieder dem Vorherbestimmten zuwendet.

Einig ist man sich auf jeden Fall darin, daß Breton sein Leben lang der General bei den häufigen Kaffeehaustreffen der Surrealistentruppe geblieben ist. „Spirituelle Autorität“ sei von ihm ausgegangen, sagten seine Gefolgsleute. Breton hat früh die Bedeutung des Dadaismus erkannt, er wollte sich schnell mit ihm verknüpfen, er hat aus dessen labilem Chaotismus den stabilen Surrealismus geformt. Er war dabei pedantisch, bierernst, haßte die ziellose Skandalsucht Dadas. Seine Öffentlichkeitsarbeit wurde bald von der genialischen Scharlatanerie Salvatore Dalis übertroffen, nicht umsonst kam der im Gegensatz zu Breton in den USA bestens an.

Die Kunst als Bewegung, als zielgerichtetes Projekt mit Theorie und Programmatik, dafür ist der Surrealismus trotz der vielen anderen Ismen die Ikone geblieben, ist das Erbe Bretons, das Ergebnis seiner ein Leben lang verfolgten Kunstpolitik. Breton ist nicht als Künstler berühmt geworden, trotz „Nadja“ oder „L'Amour fou“. Bretons eigentliches Arbeitsgebiet, so sah er das selbst auch, war nicht die Kunst, sondern das Leben. Fast alle, die ihn getroffen haben, waren von der Ausstrahlung seiner Person berührt und fasziniert, er war ein Inspirateur für andere, so wie er selbst die anderen brauchte.

Einmal scheint Breton eine vollkommene Abfuhr bekommen zu haben. Als er 1921 Sigmund Freud in Wien aufsuchte, um ihn zu interviewen, fand Freud offenbar überhaupt nichts, was die beiden hätte verbinden können. Sie redeten aneinander vorbei, wie Polizzotti schreibt. Breton sah die Analyse vor allem als Mittel „den Mensch aus sich selbst hervorzutreiben“. Dabei ist Bretons berühmteste Erfindung, die écriture automatique, Bertha Pappenheims Entdeckung, der therapeutischen Wirkung unzensierten Redens, von Freud dann als freies Assoziieren zu seiner Methode erhoben, denkbar nah. Auf jeden Fall muß in Freuds abgeklärten Augen Breton mit seinen beflissenen und etwas überspannten Visionen wie ein Kindskopf dagestanden haben. Breton hielt Freud trotzdem sein Leben lang intellektuell die Treue.

Daß die Begegnung wirklich ziemlich peinlich gewesen sein muß, bezeugt eine Erinnerung fast 20 Jahre später. Als Dali Freud in London besuchte und sich als „Dandy des Weltintellektualismus“ aufspielte (wie er selbst sagte), schrieb Freud an Stefan Zweig: „... bis dahin war ich geneigt, die Surrealisten, die mich scheinbar zu ihrem Schutzpatron gewählt haben, für absolute (sagen wir 95 Prozent wie beim Alkohol) Narren zu halten. Der junge Spanier mit seinen treuherzig-fanatischen Augen und seiner unleugbar technischen Meisterschaft hat mir eine andere Schätzung nahegelegt.“

Kraft des Zufalls

Zwei Jahre vorher übrigens hatte Zweig Freud mitgeteilt, daß er sein Biograph werden wolle. Freud: „Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.“ Was Breton gesagt hätte, ist nicht überliefert. Aber wir wissen, daß er fanatisch an die magische Kraft des Zufalls und an die Vorherbestimmung glauben wollte, seinen Frauenbeziehungen gab er nach diesem Muster angeblich objektive Bedeutung. „Wir gaben jenem Zufall die Qualität einer merkwürdigen Koinzidenz, die unausweichlich dazu führen mußte, daß wir einander begegneten“, sagte er etwa. Wahrscheinlich fände Breton also, daß Polizzotti seine Bestimmung und ihre Magie nicht herausgearbeitet hat. Das aber tut dem Buch nur gut.

Mark Polizzotti: „Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons“. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Hanser, München 1996. 1.043 Seiten, bis 1. Juli 98 DM, danach 128 DM