■ Nebensachen aus Istanbul
: Habitat? Was für Aquanauten

Der Rhododendron hat gelbe Blätter. Dabei ist der Strauch in der Istiklal-Fußgängerzone ganz neu, so wie 6.000 andere dürre Gewächse in Istanbuls Innenstadt, die um des guten Eindrucks willen eiligst eingepflanzt wurden. Tag und Nacht haben die Arbeiter der Stadtverwaltung daran gewerkelt – immerhin mußten sie den Beton wieder aufstemmen, den sie erst wenige Tage zuvor ausgegossen hatten. Vielleicht ist der Strauch einfach zu trocken – gegossen wird eigentlich nicht in der Istiklal- Straße. Vielleicht ist der arme Strauch auch deshalb so gelb, weil zuviel Müll die aus dem Beton ausgestanzte Erde bedeckt – aus Angst vor Bomben wurden schon vor geraumer Zeit alle öffentlichen Papierkörbe abgebaut.

Aber eigentlich schuld ist natürlich was ganz anderes. An allem. Eigentlich schuld ist Habitat, lateinisch: a) Standort, an dem eine Tier- oder Pflanzenart regelmäßig vorkommt beziehungsweise b) Wohnplatz von Ur- und Frühmenschen beziehungsweise lateinisch-englisch: a) Wohnstätte, Wohnraum, Wohnplatz oder b) kapselförmige Unterwasserstation, in der die Aquanauten wohnen können. In Istanbul gibt es keine Aquanauten, die regelmäßig vorkommenden Tierarten Katze und Hund sind vor Beginn der UN-Habitat-Konferenz per Giftköder dahingerafft worden, und auch Ur- und Frühmenschen sind eher selten anzutreffen.

„Habitat?“ fragt die rotbefrackte Hostess am Flughafen und geleitet den Gast zum Sonderabfertigungsschalter. Sollen sich doch die Türken an ihrem Schalter allein anstellen. „Habitat?“ fragt interessiert der Taxifahrer, der auf dem Weg zum Taksim-Platz riesige Umwege fahren muß, weil er das Konferenz-Valley in der Nähe, das mit blauen Polizeigittern vor den Einwohnern Istanbuls geschützt wird, nicht durchfahren kann.

„Habitat?“ fragt auch der Vierzigjährige mit Schnauzbart, der Cola-Dosen verkauft und die Kette mit eingeschweißter Plastikakkreditierung um den Hals des Kunden entdeckt hat. „Habitat!“ sagt verbittert der türkische Journalist, der den deutschen Kollegen Übersetzungsarbeit leistet, als am Samstag vor einer Woche 1.500 Menschen zusammengeprügelt und verhaftet werden, die friedlich in der Innenstadt demonstrieren wollen. Direkt unter dem Plakat: „Be a part of the solution — Habitat II“, das die Stadtverwaltung zur Begrüßung aufgehängt hatte.

„Halten Sie die Türkei – a) für ein demokratisches Land? – b) für ein undemokratisches Land?“ Ankreuzen, fordert ein Fragebogen die Neuankömmlinge im Hilton-Hotel auf, direkt an der Demarkationslinie zum Habitat-Valley. Bei Abfahrt zehn Tage später gibt es einen zweiten Bogen, darin wird danach nicht mehr gefragt. Statt dessen wird der Habitat-Besucher gebeten, den Zeitpunkt seiner ersten sexuellen Erfahrung kundzutun, zu beantworten, ob er Drogen nimmt und wenn ja welche und wie oft, oder ob er gar homosexuell ist. Und niemand, auch nicht die junge Hotelangestellte, die den Zettel in Empfang nimmt, ihn stracks öffnet und ihre Kollegin herbeiruft, um gemeinsam in schallendes Gelächter auszubrechen, niemand kann sagen, wozu dieser Fragebogen da ist und wem er vorgelegt wird. Will da die türkische Sicherheitspolizei mit einer empirischen Forschung aufwarten, Korrelationen schaffen zwischen Konferenzergebnissen und Drogenkonsum? Zwischen der Verneinung des Rechts auf Wohnen und dem Zeitpunkt des ersten sexuellen Kontaktes? Wundersame Türkei.

Habitat ist vorbei, die Menschen können aufatmen. Istanbul bewirbt sich um Olympia 2004, und der Rhododendron gilbt weiter vor sich hin. Bernd Pickert