Erst ans Büffet, dann an die Urne

■ Schon am Vormittag ging es in Moskaus Wahllokalen rund - mit Brot und Kaviar, aber ohne Wodka

Moskau (taz) –„Du bist besser als die Kommunisten, weil du keine leeren Versprechungen machst“, beruhigt Jelzins Bodyguard Alexander Korschakow seinen nervösen Chef noch eine Stunde vor Beginn der Präsidentschaftswahlen. „Hör dir das an, sie versichern, Kapitalisten zu beseitigen und die Planwirtschaft wiedereinzuführen...“

Schon in aller Frühe zog es gestern Moskaus Wähler in die Wahllokale, um nicht den ganzen Tag der staatsbürgerlichen Pflicht zu opfern. Danach fuhren viele wie immer am Wochenende hinaus auf ihre Datschen. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein“, schmunzelte ein älterer Mann vor dem Wahllokal 2226, „schaffen die Kommunisten es, bleibt uns nichts übrig, als alles selbst anzupflanzen“.

Vor dem Wahllokal in Sjusina im Süden Moskaus herrscht ständiges Kommen und Gehen. Es scheint, als wolle diesmal keiner seine Stimme verschenken. Ludmilla Wassiljewna, 85 Jahre, kann kaum noch ihre Beine heben. Im Schneckentempo schlurft sie die letzten Meter zum Wahllokal. Vor den vier Stufen, die ins Schulgebäude führen, bleibt sie stehen und schaut sich nach Hilfe um.

Drei Wahlzettel mit zig Kandidaten sind auszufüllen. In Moskau werden auch der Bürgermeister und die Abgeordneten zur Stadtversammlung gewählt. Die alte Frau, bescheiden gekleidet, hat ihre Entscheidung schon seit langem gefällt. „Ich bin für Jelzin“, sagt sie. Ihre Rente reicht ihr, „und die Jugend soll sagen, wen sie will“. Sie spricht es nicht aus, doch sie hat offenkundig unter den Kommunisten gelitten.

Einige Bürger zieht es nach altem Brauch, bevor sie ihre Zettel in die Urnen werfen, ans Büffet. Früher waren Wahlen ein Volksfest. Um möglichst viele Bürger zu locken, wurden allerlei Kostbarkeiten aufgefahren. Butterbrote mit Kaviar und Wurst gab es im Überfluß. Wer wollte, dem schenkte man auch noch „Hundert Gramm“ ein, ein Wasserglas voll Wodka. In Sjusina wird heute kein Wodka kredenzt. Doch das Büffet gibt es noch. Das Rentnerehepaar Lukjanow steht lange vor dem Verkaufstisch, bis es sich entschließt, einige Tüten Nüsse und Schokolade zu kaufen. Die Verkäuferinnen zeigen sich von ihrer besseren Seite, sind geduldig und die Preise sind niedriger als in den Läden.

Auch Sergej geht schon auf die achtzig zu und stützt sich auf einen Stock. Er hat seine Uniform mit Orden aus dem Vaterländischen Krieg angelegt, wie immer an Feiertagen. Wenn der nicht für Kommunist Sjuganow stimmt...! Wen er wähle? „Jelzin, wir wollen keinen Krieg“, antwortet er kurz und bündig, „er hat uns die Renten erhöht, wahrscheinlich legt er noch mal was drauf“. Angeblich seien die Veteranenverbände alle für den amtierenden Präsidenten, meint er.

Die Wahlgeschenke, die Jelzin in den letzten Wochen großzügig verteilt hat, haben ihre Wirkung zumindest in Moskau nicht verfehlt. Eine ältere Frau räumt ein: „Wir leben besser als früher, wer kann das nur vergessen.“ Die meisten Befragten zögern nicht, ihr „Wahlgeheimnis“ preiszugeben.

Dem Wähleransturm ist das Lokal gar nicht gewachsen. Nur drei Kabinen, die die wenigsten benutzen. Die Jugendlichen füllen die Zettel im Stehen aus, man trifft Bekannte und hält noch schnell einen Plausch unter der russischen Trikolore. Anschläge scheint keiner zu fürchten. Moskaus Verwaltung hatte angeordnet, Autos mindestes zweihundert Meter von den Lokalen entfernt zu parken. Nicht überall hält man sich auch daran. Auf den großen Zufahrtstraßen kontrollieren Patrouillen alle paar hundert Meter.

Um Unregelmäßigkeiten vorzubeugen, haben sich Wahlbeobachter eingefunden. Kandidat und Milliardär Brinzalow schickte jemanden im weißen Anzug, Grigorij Jawlinskis Interessen vertritt eine äußerst resolute Dame, die die Einhaltung der Regeln peinlichst genau überwacht. Gegen alles, was nach Agitation aussieht, rückt sie sofort ins Feld. Von Schirinowskis Chauvinisten ist auch einer zugegen. Nur die Kommunisten prüfen in mobilen Kommandos. Unterdessen wird aus Sibirien gemeldet, Sjuganows und Schirinowskis Anhänger hätten dem Endergebnis säckeweise nachhelfen wollen. Die Wahlhelferinnen haben ihren Arbeitsplatz ein wenig verschönt. Klaus-Helge Donath