Freifahrscheine und Freßpakete

■ Berlin–Bonn–Berlin: Im DGB-Sonderzug 6 probten Betriebsräte, Vorruheständler, Arbeitslose und Studenten den Widerstand

„Das fand ich wirklich klasse. Die IG Metall hat uns alle schriftlich eingeladen, um auf ihre Kosten nach nach Bonn zu fahren“, lobt der arbeitslose Sanitärfacharbeiter Bernd (30) seine einstige Gewerkschaft, bei der er „noch immer in der Kartei steckt“. Pünktlich um eine Minute nach zwei Uhr morgens fährt sein Sonderzug Nummer 6 vom Bahnhof Berlin- Schönefeld ab. Gestartet war er in Eisenhüttenstadt, wo 200 der noch 2.700 Beschäftigten des EKO- Stahlwerks zustiegen. Auch sie haben etliche Arbeitslose und Vorruheständler „acquiriert“, zum Mitkommen motiviert.

In Frankfurt (Oder) nimmt der Zug mehrere Vertrauensleute und den Betriebsrat des dortigen Halbleiterwerks sowie rund zwei Dutzend Eisenbahner auf. In Frankfurt hat am Tag zuvor gerade eine Kundgebung gegen Sozialabbau stattgefunden, „sonst wären mehr von uns mitgekommen“. Die zwei in Berlin zusteigenden IG-Metall- Funktionäre beginnen sogleich mit der Verteilung der kostenlosen Freßpakete – „bevor die uns alle einschlafen“. 300 rote IG-Metall- Tröten wollen sie jedoch erst vor Ankunft des Zuges in Bonn-Beuel ausgeben, „sonst nerven die uns die ganze Zeit damit“.

Die Fahnen und Transparente („Mehr Druck von unten“, „Gegen Sozialklau“) wurden bereits in den Betrieben angefertigt. Ganze Arbeit hat der Jugendbildungssekretär der IG Metall geleistet. Die von ihm mobilisierten Azubis, Schüler, Autonomen und Studenten dominieren den DGB-Zug 6 – schon allein, weil sie nicht einschlafen können und wollen. Bei jedem Stopp halten sie ihre Fahnen aus dem Fenster und rufen „Kohl muß weg“ oder auch „Solidarität“.

Von weitem sieht das aus wie die Fahrt eines Fußballfanklubs. Auch in den Abteilen ist die Europa-Meisterschaft in England vielfach Thema. In einigen wird Skat gespielt und Bier mit Schnaps getrunken. Merkwürdigerweise gibt es jedoch bis zur Rückkehr am Sonntag morgen um halb drei keinen einzigen alkoholbedingten Ausraster.

Auch viele kleine Betriebe, nicht nur aus der Metallbranche, haben gewissermaßen Abordnungen geschickt, so daß man sich erst einmal bekannt macht und betriebs- beziehungsweise belegschaftsspezifische Nöte austauscht. Der Betriebsrat eines Tempelhofer Autohauses etwa meint, daß die Organisation der Sternfahrt nach Bonn zu kurzfristig gelaufen sei, „sonst wären von uns mehr mitgekommen, auch von meiner Aktionsgruppe gegen Scientology“. Sein Betrieb gehört zu einer Augsburger Holding namens „Avag“: „Eine Holding, das ist immer Beschiß“, erklärt er. „Genauso wie Synergieeffekte“, ergänzt jemand aus einem anderen Tempelhofer Betrieb. „Wenn die Geschäftsführung von Synergieeffekten redet, dann wissen wir immer schon: Demnächst stehen wieder Entlassungen an!“

Nicht nur die modernen Betriebsführungsbegriffe aus dem Amerikanischen haben für abhängig Beschäftigte eine andere Bedeutung als für Berufsoptimisten. Auch das später auf der Kundgebung im Bonner Hofgarten vom DGB-Vorsitzenden Schulte noch einmal beschworene „Bündnis für Arbeit“ bedeutet „vor Ort“ etwas ganz anderes als in den „Führungsetagen“.

Eine Mitarbeiterin des Ostberliner Batteriewerks Belfa berichtet, daß in ihrem Werk, um den Betrieb am Leben zu erhalten, die Lohneingruppierungen runtergesetzt worden seien, nicht jedoch die Gehaltsstufen der Angestellten. Die Frauen in der Verpackung bekämen etwa 1.300 Mark netto im Monat, die Akademiker dagegen 5.600 Mark brutto. Wobei es bei Belfa doch überhaupt nichts mehr zu forschen gäbe, nicht einmal mehr was zu produzieren. Fast die gesamte Produktpalette würde von Varta gekauft und bei Belfa nur noch umettikettiert.

Solche Geschichten erzählen sich die nächtlich Reisenden je nach Temperament ironisch, zynisch oder wütend. In den Abteilen des IG-Metall-Arbeitslosenkreises ist die Stimmung dagegen eher gedrückt. Hier erwartet man sich dann auch mehr von der Kundgebung – und damit von der Regierung. „Zwei Millionen neue Arbeitsplätze hat Kohl im Januar versprochen, und die Arbeitgeber, daß sie Überstunden in Arbeitsplätze verwandeln. Nicht zuletzt damit haben sie die drei Wahlen im März gewonnen und die Gewerkschaft ihnen deswegen das Bündnis angeboten. Aber bis jetzt ist eher das Gegenteil dabei rausgekommen.“ Auf der Rückfahrt sind trotzdem die meisten guten Mutes: „Das war eine eindrucksvolle und schöne Aktion. Vielleicht hat der DGB-Chef recht, und es war sogar der Anfang einer neuen sozialen Bewegung!“ Jimmy Cooke