350.000 nörgeln über 1 Kohl

■ Rund 350.000 Menschen protestierten am Samstag in Bonn gegen den Sozialabbau. DGB-Chef Schulte gegen „Nieten in Nadelstreifen“, Kanzler kritisiert „Berufsnörgler“

Bonn (taz) – Es war die größte Gewerkschaftsdemonstration seit 1945: 350.000 Menschen protestierten. Sie kamen in 5.400 Bussen, 74 Sonderzügen, dazu Schiffe, Autos, Biker, RadlerInnen, die Hauptstadt platzte am Samstag aus den Nähten. Aus allen Bundesländern waren die DemonstrantInnen dem Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) gefolgt.

Unter strahlendblauem Himmel rief DGB-Vorsitzender Schulte – verhalten kämpferisch – zum Widerstand gegen die Bonner Sparpläne und gegen Sozialabbau und Arbeitslosigkeit auf: „Wir setzen heute ein deutliches Zeichen dafür, daß wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit keine Gegensätze sind.“ Unternehmer heutzutage, wetterte er auf der Hofgartenwiese, kennen „nur noch den Gewinn“ und scherten sich „einen Dreck um die soziale Verantwortung“. Diese „Nieten in Nadelstreifen“, so Schulte, „schädigen die Volkswirtschaft an einem Tag mehr als alle Blaumacher in den letzten zehn Jahren“. Der DGB-Chef: „In dieser Republik ist eine Wende fällig.“ „Kohl muß weg!“ skandierte die Menge im Gegenzug bei Kölsch, Cola und Kartoffelsalat. Schulte: „Heute ist eine neue soziale Bewegung entstanden!“

Bundeskanzler Kohl reagierte gestern verärgert. Er lasse sich nicht beirren, „Bedenkenträger und Berufsnörgler“ habe er „nun genug gehört“. „Wir sparen nicht um des Sparens willen“, so der Kanzler. Finanzminister Theo Waigel (CSU) witterte hinter der DGB-Demonstration parteipolitische Machenschaften der SPD. FDP- Chef Gerhardt nörgelte, daß durch Demonstrationen „kein einziger Arbeitsplatz geschaffen“ werde. CDU-Generalsekretär Hintze warnte die „lieben Demo-Teilnehmer“ schriftlich: „Wer jetzt Reformen verweigert, verspielt unsere Zukunft – auch Ihre.“ Die Kundgebung bezeichnete er als ein „Signal der Zukunftsverweigerer“. Industrieboß Henkel, von den RednerInnen in Bonn immer wieder als persönlich mitverantwortlich angegriffen, bezog verhalten Stellung. Er nannte die Veranstaltung „überzogen“.

Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann sah „reinen Aktionismus“. Er forderte Schulte zu einem Spitzengespräch auf und appellierte in einem Brief an die Gewerkschaften, „wieder zu Sachlichkeit und zu gemeinsamer Verantwortung zurückzufinden“. Gemeinsam mit der Regierung müßten die Sozialkosten gesenkt werden. Andernfalls verlangte er von den Gewerkschaften eine Antwort darauf, „ob sich Deutschland auf Dauer höhere Kosten als die Mitbewerber leisten“ könne. SPD- Chef Lafontaine, der an der Kundgebung teilgenommen hatte, rief dagegen gestern die Bundesregierung dazu auf, die unsozialen Kürzungspläne zu korrigieren. Die Kundgebung habe gezeigt, daß der Protest gegen das Sparpaket aus der Mitte der Gesellschaft komme. Nur Ignoranten könnten vom „Druck der Straße“ sprechen. Heide Platen Tagesthema Seite 3