Bei Gelb sieht Berti rot

Nach dem 3:0 über Rußland glaubt Markus Babbel, die deutschen Nationalkicker seien nur noch vom Antichrist höchstpersönlich zu stoppen  ■ Aus Manchester Peter Unfried

Wie ist das jetzt mit der Qualifikation für das EM-Viertelfinale? Wer ist wann zur Teilnahme berechtigt? Der Montag draußen in Mottram Hall mag für manchen noch schweißtreibender gewesen sein, als das 3:0 gegen die Russen in der Sonntagshitze von Old Trafford. Was alle zu wissen glauben, faßt Markus Babbel in Worte. Zwei Siege, sechs Punkte: „Es müßte mit dem Teufel zugehen“, ahnt der bayerische Verteidiger, „wenn wir nicht weiterkämen.“ Was genau aber der Antichrist zu arrangieren habe, „das weiß, glaub' ich, keiner so recht.“

Dies ward gesprochen unmittelbar nach dem Spiel. Gestern ist allerorten viel hin- und hergerechnet worden. Und nun liegt ein Ergebnis vor: Verlieren die Deutschen am Mittwoch 0:1, ist man Gruppenerster und Italien weiter. Verlieren sie 0:2, ist man weiter, aber Italien erster.

Verlieren sie 0:3 und die Tschechen schlagen die Russen höher als 3:0, ist Tschechien zweiter – und der DFB draußen. Dies alles berechnet sich aus der erstmals zur Anwendung kommenden Regelung, die bei Punktgleichheit nur Spiele der Punktgleichen berücksichtigt. Im letztgenannten Fall hätten Tschechen und Deutsche jeweils 3 Punkte und 2:3 Tore. Dann zählen die Tore gegen die Russen. Verlieren aber die Deutschen 1:4 gegen Italien, haben sie 3:4 Tore – und sind weiter.

Es ist nicht so, daß noch ernsthaft einer mit einem frühen Rückflug rechnete, aber, sagt der Bundestrainer, der es muß: „Fast ist nicht sicher.“

Was ist überhaupt sicher? Markus Babbel glaubt: „Noch kann jeder weiterkommen, bis auf die Russen.“ Mathematisch gesehen ist das falsch, Babbel. Schlagen die Deutschen die Italiener, müssen die Russen bloß 2:0 gewinnen. Solche Gedanken allerdings, sagt Igor Romanzew, „sollten realistischen Hintergrund und Substanz haben. In unserer Vorstellung war nichts davon.“

Das russische Team war nach einer soliden ersten Hälfte ähnlich auseinandergebrochen, wie beim 1:2 gegen Italien.

„Es fehlte Kampfgeist, Teamgeist“, klagte Romanzew und putzte seine über Europa verteilten Einzelkämpfer böse runter. Es sind dies eben jene Tugenden, die die Deutschen anzubieten hatten, als die Hitze zunahm, „die Luft stand“ (Klinsmann), die Lage komplexer wurde.

Die Deutschen waren auch vor der Pause gerannt. Zuviel, zuweit. Markus Babbel (23), bei seinem ersten Turnier und hauptsächlich durch Kohlers Verletzung im Team, fand sich in dieser Phase plötzlich hinten allein; nur den treuen Eilts an seiner Seite. „Es gibt Situationen, wo Leute gehen“, sagte er, „aber da müssen andere bleiben.“ Taten die nicht; der Fußballtrieb ging mit ihnen durch; phasenweise, tadelte Vogts, „haben wir mit sechs Mann gestürmt“. Die Folge: Die Stürmenden kamen nicht mehr zurück, mit Verschieben war auch nichts mehr, der Gegner hatte bisweilen gar Überzahl.

Zur Halbzeit kam eine „ganz klare Anweisung“ (Babbel) vom Bundestrainer: „Zurückziehen.“ Da ward alles anders, stand das Team und brauchte, Babbel sah es erleichtert, „eigentlich nur noch zu verschieben.“

„Wir wußten“, behauptete Jürgen Klinsmann, „daß wir gewinnen, wenn wir das erste Tor machen.“ Es handelte sich tatsächlich um einen „Weltklassepaß“ (Vogts) von Andreas Möller. Man sah Sammer rennen, man visionierte den Weg, den der Ball nehmen müßte – und dann war er auch schon gelandet, hatte Sammer Kharin angeschossen und den Abpraller ins Tor gestolpert.

„Es ist die Klasse dieser Spieler, daß sie eine solche Situation erkennen, und was die Mannschaft benötigt“, sagte Vogts. Der Mann hat recht: Das Team brauchte ein Tor – und Sammer erkannte es nicht nur, er machte es auch noch. Bei den Russen war weit und breit keiner, auf den die Stellenbeschreibung paßte.

Danach, staunte Babbel, nun ganz entspannt hintenstehend, gaben „die sich ja komplett auf“, insbesondere nach dem Platzverweis ihres giftigen Verteidigers Kowtun. Onopko mußte nun den Raum statt den Kapitän zustellen, und Jürgen Klinsmann schoß derweil noch schnell Länderspieltore 37 und 38. Insbesondere Nr. 37, der Außenristheber in den linken Winkel, hat die klinsmannfixierte englische Presse nun völlig aus dem Häuschen gebracht.

Klinsmann redet fast nur noch Englisch in diesen Tagen, und man kann sagen, daß es ihm liegt. „Fighting and battling for the team“, das ist die Einschätzung, die er über sein Spiel hat. Das mag Englisch klingen, doch nicht nur der Kapitän vermittelt den Eindruck, als sei das tatsächlich der Leitsatz dieser deutschen Zweckgemeinschaft. Die DFB-Kicker funktionieren. Und daß mit Zieges Tritt auf Mario Baslers Narbe das einzige Risiko nun ausgeschaltet ist, wird den Heimgereisten schmerzen, doch in Mottram Hall niemanden.

Jeder hat seinen Platz. Markus Babbel den seinen am Mittwoch wegen zweiter gelber Karte auf der Bank. Macht nichts, sagt der. „Ich versuche mich ganz normal aufzuführen, wie vorher auch.“ Berti Vogts allerdings sieht bei Gelb rot. „Es trifft uns“, sagte er und seine Krawatte baumelte aufgeregt an der Hose, „daß wieder gegen eine deutsche Mannschaft leichtfertig eine gelbe Karte gezogen worden ist.“

Wenn bei der Ermittlung der Viertelfinalisten alle anderen mathematischen Regularien fehlen, dann würde der Fairplay-Pegel gemessen. Das ist relativ unmöglich. Aber der deutsche ist jedenfalls tief. „Und dann kommt der mit dem kleinsten Spieler weiter“, sagte Vogts bissig. Möglich: Aber zuerst kommt noch der witzigste Trainer. Es müßte mit allen Teufeln zugehen, wenn dann etwas schiefgehen sollte.

Deutschland: Köpke - Sammer - Babbel - Reuter, Eilts, Helmer, Ziege - Häßler (67. Freund), Möller (87. Strunz) - Klinsmann, Bierhoff (85. Kuntz)

Zuschauer: 50.760, Tore: 0:1 Sammer (56.), 0:2 Klinsmann (77.), 0:3 Klinsmann (90.)

Rote Karte: Kowtun (71.) wegen groben Foulspiels

Rußland: Scharin - Nikiforow - Onopko, Kowtun - Tedradse, Zimbalar - Kantschelskis, Mostowoi, Radimow (46. Karpin) - Kolywanow, Chochlow (66. Simutenko)