Ge(selbst)mordetes Deutschtum

Jude, Christ, wieder Jude, wieder Christ. Victor Klemperer, das zeigen die Lebenserinnerungen bis 1918, ging viele Wege, um herauszufinden, wer er ist. Nur eines war er immer: ein Deutscher, der an seinem Deutschtum litt  ■ Von Michael Schornstheimer

Jetzt wollen wir wieder, jetzt sollen wir wieder, „normal“ sein: also die „Bundesrepublik“ weglassen und nur noch „Deutschland“ sagen; Rekruten zackig-schmissig vereidigen mit Stiefelknallen und großem Tschingderassabum; sogar der Nordatlantikpakt darf sich mit Zustimmung von USA und Frankreich germanisieren. Die Frage „Was ist deutsch?“ treibt nicht nur Militärs und Politiker um, auch Intellektuelle verschreiben sich ihr. Die einen feiern das deutsche Wesen als gebändigt, weil endgültig geläutert und demokratisiert, die anderen wiegen mit einem entschiedenen Sowohl-Als-auch bedächtig den Kopf.

Eine mögliche Antwort könnten beide Seiten finden, in Victor Klemperers Lebensgeschichte: Seine „Tagebücher“ belegen eindrücklich, daß das Unwesen des Nationalsozialismus aus der Mitte des Volkes gespeist wurde, von allen Klassen, Schichten und Gruppen. Der in Dresden lehrende Romanist Victor Klemperer war ein Teil dieses Volkes: „Ich habe mich wahrhaftig immer als Deutscher gefühlt“, notierte er im März 1933. Fünf Jahre später, im Januar 1938, schon vielfach gedemütigt und drangsaliert: „Ich vermag mein Deutschtum nicht mehr unterstreichen, die ganze nationale Ideologie ist mir einigermaßen in die Brüche gegangen.“ Und im Sommer des gleichen Jahres: „Wie schön wäre Deutschland, wenn man sich noch als Deutscher fühlen und mit Stolz als Deutscher fühlen könnte.“ Im Juni 1942, als ihm die Bedeutung von Auschwitz als „furchtbarstes KZ“ bereits deutlich war, vergingen ihm die letzten Illusionen: „An das ganz undeutsche Wesen des Nationalsozialismus kann ich nicht mehr glauben; er ist ein deutsches Eigengewächs, ein Karzinom aus deutschem Fleisch.“

Klemperer registrierte seine zunehmende Ausgrenzung und Isolierung mit einem fast ungläubigen Staunen, und noch als ihm Zeitungskauf, Busfahren, Telefonieren und Kuchenessen verboten wurden, quälte er sich ab mit Fragen an sein Deutschtum. Die Ungereimtheiten, die die Tagebücher aufgeben, werden durch die Lektüre seines Lebenslaufes von 1881 bis 1918 verständlich: „Curriculum Vitae“ verfaßt in den besonders bedrängenden Jahren, ab 1939: „Ich habe dem Führer mehr zu verdanken als nur die unfreiwillige Muße: Indem er mir mein Deutschtum fortlog, hat er mich erst ein tiefstes und kontinuierlich wirkendes Grundelement meines Lebens in aller Schärfe erkennen lassen.“

Mit seinen Lebenserinnerungen (erstmals erschienen 1989 bei Rütten & Loening sowie Siedler Verlag) gelingt es Victor Klemperer, ein außerordentlich dichtes Bild seiner Zeit zu zeichnen: einer Zeit, in der man noch durch Europa reisen konnte, ohne einen Paß zu besitzen. Ein Deutschland, das in vielen Sphären antijüdisch war, aber noch lange nicht rassistisch-antisemitisch. Und ein Judentum, das nichts heißer begehrte, als endlich von der unchristlichen Mehrheit angenommen zu werden, und dafür bereit war, sich zu verleugnen, ja zu konvertieren.

Victor Klemperers Vater war noch Rabbiner, allerdings einer, der das Essen über alles liebte und deshalb sogar trefe Speisen für koscher erklärte und den Fasttag Yom Kippur mit einem kräftigen Frühstück begann, um sich für die vielen Gebete zu stärken. Aus dem östlichen Bromberg, Provinz Posen, gelang dem Vater „gottlob“ die Bewerbung zur Reformgemeinde nach Berlin: Gottesdienst in deutscher Sprache, am Sonntag statt am Sonnabend, Orgelspiel zu deutschem Chorgesang. Für den Sohn „radikalster Ausdruck“ des Willens „zum Deutschtum“.

Victor Klemperer wurde als neuntes und letztes Kind 1881 in Landsberg an der Warthe geboren. Nach fünfjähriger Pause „tropfte“ er hinterdrein. Sein Vater sah ihm manches nach und behandelte ihn milde. Um so mehr empfand er seinen ältesten Bruder Georg, den er – dessen bourgeoisen Strebertums wegen – viele Jahre lang haßte, als das eigentliche Familienoberhaupt. Georg war früh zum Protestantismus übergetreten, hatte ein christliches Mädchen geheiratet und machte Karriere: als Arzt, Wissenschaftler und Universitätsprofessor. Ebenso Bruder Berthold als Rechtsanwalt.

Nicht so Victor: Er blieb seiner Konfession zunächst treu und machte dabei die seltsamsten Erfahrungen: So sollte er beispielsweise von einer jüdischen Studentenverbindung geworben werden mit der Begründung, daß er sein Deutschtum zu beweisen habe, denn nur wer bei der Mensur seinen Mann stehe, gelte als echter deutscher Student: „Ihrer Abneigung gegen Couleur und Fechtboden dürften Sie vielleicht folgen, wenn Sie aus christlichem Hause stammten und niemand etwas gegen ihr Deutschtum einzuwenden vermöchte. Aber als Jude müssen Sie zeigen, daß auch ein Jude den deutschen Schläger führen kann.“

Erst als Victor, der sich seinen Brüdern auch körperlich stets unterlegen gefühlt hatte, als zum Militärdienst tauglich befunden wurde (worüber er eine „ungemischte und sehr große Freude“ empfand), entschloß er sich, eine „anständige Konfession“ anzunehmen, und ließ sich taufen. Doch seinen Lebensunterhalt verdiente er nach Kaufmannslehre und „zweitem Bildungsweg“ mit Vorträgen in jüdischen Literaturvereinen. Er dozierte deutschnational und antizionistisch. Aber das reichte seinen Brüdern nicht: Einen Band mit Talmudsprüchen kommentierte Berthold abfällig: „Daß du soweit herunterkommen würdest, hätte ich nun doch nicht geglaubt.“ 1906 annullierte Victor seine Taufe wieder, weil er sich „im schroffen Gegensatz“ zu seinen Brüdern fühlte. Bei seiner Hochzeit mit seiner Frau Eva nahm er jedoch erneut die protestantische Konfession an, da er sich dem Christentum „als ein wesentliches Element der deutschen Kultur“ verbunden wußte.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ertappte sich Victor Klemperer dabei, daß er und seine Frau Eva in die Hochrufe der Leute mit einstimmten: „Wahrhaftig, ich habe unwillkürlich mitgerufen. [...] Alle singen, ruhig und mit langen Taktpausen, und alle sehen stolz und strahlend aus. Mir steigen jedesmal die Tränen hoch, und Eva wird ganz blaß.“ Natürlich meldete sich Victor Klemperer sofort als Freiwilliger, und als er erfuhr, daß ihn das Vaterland vorläufig noch nicht brauchte, reagierte er nicht etwa erleichtert und freudig, sondern enttäuscht und verärgert.

Während Deutsche jüdischen Glaubens an die Front ausrückten, wuchs in der Heimat die antijüdische Stimmung: „Die Judenjungen in den Banken sind die Unabkömmlichen, was Jude ist, drückt sich.“ So hieß es auf den Straßen. Doch in der Reformgemeinde, die Klemperer zum Sonntagsgottesdienst besuchte, stand sogar der Vorbeter „in Feldgrau am Pult“. 28 Uniformierte zählte er an diesem Tag in der kleinen Runde, darunter neun mit dem Eisernen Kreuz: „Wofür kämpfen sie? Wirklich und ganz einfach für ihr Vaterland? Oder für die Erlangung eines Vaterlandes? Oder weil es sie ,sehr stark in ihrer Laufbahn fördern‘ wird? Und ich selber? Ich wünschte, ich wäre erst in Felde. Danach werde ich mir kosmopolitische Ideale erlauben dürfen.“ Der Wunsch wurde ihm bald genug erfüllt, er kam „ins Feld“: an die Front und in die Etappe, nach Westen und nach Osten. Und noch in den letzten Tagen des Kriegsjahres 1918 meldete er sich freiwillig zum Einsatz nach Wilna, aber da wußte er schon nicht mehr, weshalb: „Aus Patriotismus oder Pflichtgefühl? Oder weil ich nicht beschäftigungslos herumsitzen und dem Studium meiner Frau zusehen wollte? [...] Es war keine Antwort zu finden.“

Als Victor Klemperer die Arbeit an seinem „Curriculum Vitae“ beendete, mußte er Zwangsarbeit leisten. Längst war ihm sein Haus genommen und alle bürgerlichen Rechte. Täglich mußte er fürchten, festgenommen und umgebracht zu werden. In diesen Tagen erinnerte er sich an den Besuch einer Talmudschule in Wilna 1918, und er notierte: „Nein, ich gehörte nicht zu diesen Menschen, und wenn man mir hundertmal Blutsverwandtschaft mit ihnen nachwies. [...] Ich gehörte nach Europa, nach Deutschland, und ich dankte meinem Schöpfer, Deutscher zu sein.“

Doch dieses Deutschtum, das im Namen der Reinheit der Rasse einen Teil seines Volkes ermordet hat, hat sich dadurch gleichsam selbst exekutiert. Deutsche „Normalität“ kann es deshalb nicht mehr geben. Auch nicht im Jahre 51 danach.

Victor Klemperer: „Curriculum Vitae“. Aufbau-Verlag, Berlin 1996, 1367 Seiten, 49,90 DM

Die Lücke zwischen den Lebenserinnerungen bis 1918 und den Tagebüchern ab 1933 wird im September geschlossen. Unter dem Titel „Leben sammeln, nicht fragen, wozu“ erscheinen ebenfalls im Aufbau-Verlag Klemperers Tagebücher von 1918 bis 1933.