„Die Zukunft gehört Alexander Lebed“

■ Für den Schriftsteller Wladimir Sorokin hat die Nach-Jelzin-Ära bereits begonnen. Und der kommende Mann ist der ehemalige General, der als Drittstärkster abgeschnitten hat

Wladimir Sorokin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftsteller. Geboren wurde er 1955 in Moskau. Seine erste Veröffentlichung in deutscher Sprache war „Die Schlange“, 1990, im Haffmans Verlag.

taz: Herr Sorokin, ein knappes Ergebnis, aber Boris Jelzin liegt vorn. Ist damit der Ausgang der kommenden Stichwahl klar?

Wladimir Sorokin: Eigentlich ist nichts Überraschendes passiert. Genauso hatte ich mir den Ausgang vorgestellt. Das einzige wirklich Unerwartete ist das bemerkenswerte Abschneiden General Lebeds. In Rußland, besonders im 20. Jahrhundert, halten sich gerade Politiker mit versteinerten Antlitzen, einer völlig leblosen Mimik lange an der Macht. Politiker, deren Mienenspiel lebendig und rege ist, können sich nicht lange an der Spitze behaupten. Jelzin und seine Umgebung glauben fest an den Sieg, in ihren Augen ist alles längst vorentschieden. Doch die Zukunft gehört zweifelsohne Alexander Lebed.

Trotz der oft geäußerten Befürchtung, die Wahlen könnten gefälscht oder in letzter Minute verschoben werden, hat sich dennoch alles fast routinemäßig abgespielt. Ist Rußland auf dem Weg, ein ganz „normaler“ Staat zu werden?

„Normal“ bedeutet im russischen Kontext ja etwas anderes; das läßt sich in ein paar Worten nur schwer erklären. Normal heißt für uns ein Leben, das ohne merkliche Erschütterungen verläuft. Ungeachtet widriger oder gar erniedrigender Umstände, aber eben frei vom Druck, sich Veränderungen anpassen zu müssen. Demnach erfüllt in unserer Wahrnehmung gerade die Ära Breschnew die Kriterien der „Normalität“. Insoweit sind wir vom westlichen, eher funktionalen Verständnis von „Normalität“ noch weit entfernt.

Ein Drittel der Wähler hat die Kommunisten gewählt. War diese Entscheidung wirtschaftlich begründet, oder drückt sich darin tatsächlich ein Verlangen nach einem Leben im Kollektiv aus? Verbirgt sich darin jene Besonderheit, jenes Anderssein Rußlands? Womöglich die „Seele“, die wir Westler nicht so recht dingfest machen können?

Ich glaube, alle sehnen sich auf die eine oder andere Art nach einem Leben in Kollektivität. Die russische Gesellschaft war dafür lange Zeit exemplarisch. Doch auch im Westen steht unser Jahrhundert unter dem Zeichen des Kollektivismus. Wir durchleben gerade das Ende dieser Epoche, im Westen wie Osten. Das 21. Jahrhundert wird sich nicht mehr an diesem Leitprinzip orientieren.

Hat Jelzin noch die Kraft, einen neuen Reformschub in Gang zu setzen, oder wird er nach den Wahlen wieder in ein Koma fallen, womit alles weiterläuft wie vorher?

Jelzin ist eine wichtige Figur. Er selbst hat seine ärgsten Widersacher immer auf ihre Plätze verwiesen, angefangen mit Gorbatschow, dann der Kommunistischen Partei bis hin zu Sjuganow. Und immer auf die gleiche Weise: Er verharrte wie ein Fels auf seinem Platz und vermittelte den Eindruck, als würde er sich nicht bewegen. Das ist unbestritten seine Stärke. Die Nach-Jelzin-Ära noch unter Leitung Boris Nikolaijewitschs ist angebrochen. Die Jahre seines Rückzuges beginnen. Ich habe das Gefühl, daß Jelzin höchstens noch zwei Jahre durchhält. Und der kommende Mann ist mit aller Wahrscheinlichkeit Alexander Lebed.

Trauen Sie ihm den Übergang in ein bürgerliches Leben und die Leitung des Staates zu?

Ich halte Lebed für einen ausreichend klugen und ironischen Menschen. Vor allem verfügt er über so etwas wie Selbstironie, die allen unseren anderen Politikern abgeht. Er besitzt Humor. Wie er sich verhält, wenn er die Macht in Rußland hat, ist eine ganz andere Sache. Interview: Klaus-Helge Donath