■ Wer künftig im Kreml regiert, ob Boris Jelzin oder Gennadi Sjuganow, wird erst die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen zeigen. Aber einen Sieger gibt es schon jetzt: die Demokratie in Rußland.
: Kontrahenten auf Brautschau

Wer künftig im Kreml regiert, ob Boris Jelzin oder Gennadi Sjuganow, wird erst die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen zeigen. Aber einen Sieger gibt es schon jetzt: die Demokratie in Rußland.

Kontrahenten auf Brautschau

Noch sind die Präsidentschaftswahlen in Rußland nicht entschieden. Indes hat das Land den entscheidenden Sieg schon errungen. Zum ersten Mal in Rußlands Geschichte fanden Wahlen eines Staatsoberhauptes unter demokratischen Bedingungen statt. Präsident Jelzin, der sich in den letzten Vorwahltagen anschickte, schon im ersten Urnengang den Zuschlag zu erhalten, zeigte sich gestern morgen trotz eines bescheideneren Resultats zufrieden. Die Wahlen hätten stattgefunden ohne nennenswerte Zwischenfälle und Unregelmäßigkeiten, und das sei bereits als ein Erfolg zu werten, sagte er in einer Fernsehansprache.

Vielleicht ist dieser Umstand in der Tat höher zu bewerten als das eigentliche Ergebnis. Rußlands Politik oszillierte immer zwischen extremen Polen. Maximalismus bestimmte die Position der treibenden politischen Kräfte. Womöglich zeichnet sich nun ein Übergang in ruhigere Fahrwasser ab. Die Politik des Kreml könnte in der Folge pragmatischer und verläßlicher werden.

Dennoch ist Rußlands Präsident noch nicht gewählt. „Jetzt, nach der ersten Runde, hat sich die Ausgangslage verändert“, wandte sich Wahlkämpfer Jelzin erneut an die Bürger, „die Wahl ist kristallklar – entweder zurück zu Revolutionen und Erschütterungen oder vorwärts in Richtung Stabilität und Wohlstand.“ Jelzin forderte die Wähler auf, den zweiten Wahlgang nicht zu ignorieren und Einigkeit zu demonstrieren.

Am Wochenende hatten rund 70 Prozent der Bürger ihr Wahlrecht wahrgenommen. Das Jelzin- Lager hatte indes mit einer höheren Beteiligung gerechnet. Gerade in den großen Städten, die traditionell zur Gefolgschaft des reformierten und demokratischen Spektrums zählen, blieb der erwartete Turn-out um einige Prozentpunkte niedriger. Viele Bürger verbrachten das Wochenende auf ihren Datschen in den Vorstädten. Selbst diejenigen, die am Abend den Rückweg antraten, endeten in Staus und schafften es nicht mehr in die Wahllokale.

Dennoch widerlegt die für westliche Demokratien hohe Wahlbeteiligung die Behauptung, die Russen seien politikmüde. Im Gegenteil, die Wähler hatten begriffen, worum es geht: keine beliebige Wahl zwischen Personen, sondern ein Entscheid über die Art der gesellschaftlichen Verfaßtheit.

In der zweiten Runde Anfang Juli, die Kommunist Sjuganow und Boris Jelzin untereinander austragen, stellt sich das Problem der Wahlbeteiligung noch krasser. Im Juli fährt die städtische Bevölkerung in die Ferien, während die vornehmlich ländliche und kleinstädtische Wählerschaft der Kommunisten seltener einen Ortswechsel vornimmt. Ohnehin gilt sie als wesentlich „disziplinierter“.

Nun heißt es in beiden Lagern, Verbündete zu mobilisieren. Eine wirkliche Überraschung lieferte Alexander Lebed. Der eckige General a.D. mit der Stimme eines startenden Düsentriebwerks heimste fast 15 Prozent der Stimmen ein. Er versprach keine goldenen Zeiten, versicherte aber, er werde dafür sorgen, Law and order wiederherzustellen. Bisher hatte sich Lebed noch nicht festgelegt, welchem von beiden Bewerbern er den Vorzug geben könnte.

Sollte er seinen Wählern eine klare Empfehlung geben, werden diese ihm dennoch nicht geschlossen folgen. Sein Elektorat ist vielschichtig und schillernd. Ein Teil konnte er dem Chauvinisten Wladimir Schirinowski streitig machen, der mit knapp 6 Prozent ein sehr schwaches Ergebnis erzielte. Ein weiteres Segment stammt aus dem traditionell linken Spektrum, das mit der Führung der KPR nicht einverstanden ist.

Wiederum ein nicht unwesentlicher Anteil setzt sich aus Wählern zusammen, die durch ihre Stimme für Lebed im ersten Wahlgang dem Präsidenten einen Denkzettel verpassen wollten. Marschiert der General mit Jelzin, bringt er ihm keinesfalls seine 15 Prozent. Die Hälfte wäre schon ein üppiges Darbringsel. Zumal die Wählerschaft, die Lebed aus den Reihen der Parteigänger Schirinowskis rekrutieren konnte, eher aus gesellschaftlich marginalen Schichten stammt, die angesichts einer mangelnden Alternative am zweiten Wahlgang nicht mehr teilnimmt.

Spekulationen, welches Amt beide Buhler dem General anbieten könnten, machen bereits seit längerem die Runde. Mit dem Posten des Verteidigungsministers wird sich Lebed nicht abspeisen lassen. Noch ist die Stelle des Premiers Viktor Tschernomyrdin vorbehalten. Unter Umständen könnte ihm Jelzin die Leitung des Sicherheitsrates übertragen. In diesem Zirkel werden die wichtigsten Entscheidungen gefällt. Die Wählerschaft, vornehmlich die Intelligenz, die bisher dem liberalen Reformer und Vorsitzenden der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, folgte, muß im Interesse einer halbwegs kalkulierbaren Zukunft nun in den sauren Apfel beißen und Jelzin wählen. Jawlinski sammelte 7,5 Prozent der Stimmen.

Auch die Stichwahl verliert nicht an Spannung, gleichwohl Jelzin am Ende das Rennen machen dürfte. Die Wahlen haben zumindest die Grenzen des kommunistischen Elektorats aufgezeigt, das ein Drittel der aktiven Wählerschaft nicht übersteigt, mithin ein Fünftel der russischen Bevölkerung umfaßt. Damit wäre eine Behauptung widerlegt, die der Spitzenkandidat der KPR auch nach seinem enttäuschenden Abschneiden unverdrossen wiederholt: Zwei Drittel der russischen Bevölkerung zögen ein Dasein im Kollektiv anderen Lebensweisen vor. In der Provinz, die quasi feudalistische Abhängigkeiten bewahrt hat, trifft das zu. Doch selbst dort schwindet die Unterstützung, da die Jugend sich dem Diktat durch Landflucht entzieht. Die städtischen Zentren haben indes eine unmißverständliche Wahl getroffen. Klaus-Helge Donath, Moskau