Jelzin – der Anti-Sjuganow

■ Der russische Wahlkampf wird sich weiter zuspitzen

Jelzins Mitarbeiter werden sich freuen, aus der Illegalität wieder auftauchen zu können. Da macht es nichts, daß ihr Chef sich geirrt hat. Der hatte vor den Wahlen verkündet: „Entweder ich kenne mein Volk nicht, oder ich gewinne bereits im ersten Wahlgang. Meinen Mitarbeitern habe ich verboten, das Problem einer Stichwahl zu diskutieren, sie arbeiten daran nur illegal, nach Feierabend.“ Gehen wir einfach nicht so weit und behaupten, genau darin liege ja das Problem: Daß Jelzin sein Volk nicht so richtig versteht. Seien wir freundlich zum Wahlsieger. Er hat nur einen Scherz gemacht.

Wie erwartet, wird es eine Stichwahl zwischen Jelzin und Sjuganow geben. Dieser Zweikampf ist bereits vor dem ersten Wahlgang von beiden zur Schicksalswahl hochstilisiert worden. Jetzt wird das Wahlklima noch rauher werden. Jelzin oder Sjuganow – daraus wird schärfer als bisher der Grundkonflikt dieses Jahrhunderts gebastelt: Demokratie und Marktwirtschaft oder Diktatur und Planwirtschaft.

Diese Zuspitzung ist albern. Sie geht an den Realitäten in Rußland vorbei, und sie schwächt die demokratische Opposition; das erklärt Jawlinskis schwaches Ergebnis. Auch wenn es Jelzin in seinem Wahlkampf verstanden hat, Erinnerungen an das Klima der Perestroika wieder entstehen zu lassen – er ist kein Reformer mehr. Er hat die Hoffnungen auf eine Modernisierung der russischen Gesellschaft zerstört. Und den Kommunisten hat er das Wasser abgegraben, in dem er ihre Forderungen einfach übernommen hat. Der Historiker Juri Afanasjew bündelt das in der These, daß die zwei stärksten Parteien beide aus Kommunisten bestünden. Nur seien die einen, mit dem ehemaligen Politbürokandidaten an ihrer Spitze, die Gewinner der Umwälzungen und nennen sich Antikommunisten, während die anderen als Verlierer ihren Namen beibehalten haben.

Bei der Wahl geht es nicht um Ideologien, sondern um Personen und ihr Machtverständnis. Jelzins autoritärer Liberalismus, der sich immer mehr zu einer Oligarchie lateinamerikanischen Zuschnitts entwickelt, verspricht vielen Russen noch am ehesten die gewünschte Berechenbarkeit. So wird Jelzin jetzt vollends zum Anti-Sjuganow. Bei der Stichwahl könnte er damit durchkommen. Für die Zeit danach ist das zuwenig. Jens König