■ Jahresbericht 1996 von amnesty international vorgestellt
: Vom Umgang mit dem Alltäglichen

Überall auf der Welt werden Menschen gequält, in Haft gefoltert, mißhandelt, ermordet, „verschwinden“ Personen ihrer politischen Gesinnung wegen. Und jedes Jahr im Sommer veröffentlicht amnesty den neuen Jahresbericht, wo auf mehreren hundert Seiten die Schrecken dieser Welt aufgelistet und die immer gleichen Aktionsmöglichkeiten aufgeführt sind: Briefe schreiben, Öffentlichkeit herstellen, protestieren.

Wenn wir ehrlich sind, können wir all das schon lange nicht mehr hören. Immer diese Kurden-Geschichten. Immer diese chinesischen Dissidenten. Immer diese Ogoni in Nigeria, dieses Ost-Timor, dieses Tibet, dieses Birma, dieses Guatemala, dieses Mexiko. Klar, man muß was tun. Oder, besser: Man müßte. Auch als taz. Etwa den „Gefangenen des Monats“ von amnesty abdrucken? Aber wer liest das schon. Führt nicht die institutionalisierte Betroffenheit direkt in die Gleichgültigkeit?

Menschenrechtsverletzungen sind alltäglich. Läßt man sich diesen banalen Satz auf der Zunge zergehen, ist das Problem im Umgang damit auch schon einigermaßen umschrieben. Auf dem Tisch der Auslandsredaktion etwa landen täglich so viele Bitten um Veröffentlichung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzung, daß wir die beiden Auslandsseiten jeden Tag nur damit füllen könnten. Also wählen wir aus, was in die Zeitung kommt und was nicht – nach journalistischen Kriterien, die nur zufällig dem Bedürfnis der Betroffenen nach Schutz durch Öffentlichkeit gerecht werden.

Eine andere Möglichkeit haben diese Menschen aber oft nicht – sie haben vor allem nicht die Chance, darauf zu warten, daß sich eines Tages einmal die Strukturen ändern. Wer heute in Polizeigewahrsam gefoltert wird, braucht sofortige Unterstützung. Allerdings lassen sich Regierungen offensichtlich immer weniger von dieser Öffentlichkeit beeindrucken. Amnesty beschreibt im neuen Jahresbericht, daß entwickelte westliche Länder selbst Folterwerkzeuge in Länder exportieren, die für Menschenrechtsverletzungen bekannt sind. Menschenrechtsverletzungen kosten derzeit gar nichts. Wenn es nicht gelingt, endlich die Durchsetzung der Menschenrechte als verbindliches Kriterium der Außen- und der Außenwirtschaftspolitik zu etablieren, dann bleibt die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen folgenlos. Bernd Pickert