■ Hat der Sozialstaat eine Zukunft? (6) Das soziale System nur als Kostenfaktor zu verstehen ist ein Irrtum: Vom Leben über die Verhältnisse
In einem Punkt ist Helmut Kohl und seinen Wirtschafts- und Finanzpolitikern zuzustimmen: Um die Finanzkrise des Staates zu überwinden, müssen die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung angegangen werden. Verteilt werden kann auf die Dauer in der Tat nur das, was erwirtschaftet wird. Diese alte ökonomische Einsicht ist jedoch nur scheinbar so banal, wie sie klingt. Sie führt direkt zu einer noch viel älteren und ziemlich vertrackten Fragestellung: Was bedeutet eigentlich „wirtschaften“? Wie definiert sich die „wirtschaftliche Basis“ unserer Gesellschaft? Wo steckt jene „Produktivität“, die der gesellschaftlichen Entwicklung neue Impulse geben und sie aus der lähmenden Krise herausholen könnte?
Die Politik der Bundesregierung enthält eine unausgesprochene, aber klare Antwort auf diese Fragen. Im Zentrum der wirtschaftlichen Dynamik stehen für sie die technisch modernsten Sektoren der Privatwirtschaft, die in der internationalen Konkurrenz um Marktanteile kämpfen. Die „sozialen“ Bereiche der Gesellschaft existieren im Prinzip nur als Kostgänger von Unternehmen, die durch ständige technische Innovation ihre Wettbewerber von den Weltmärkten zu verdrängen suchen. Als Garanten der produktiven Entwicklung, und somit als die wahren Schöpfer unseres Wohlstands und unserer Zukunftsperspektiven, dürfen sie verständlicherweise nicht zu sehr mit den Kosten der „unproduktiven“ Gesellschaft belastet werden.
In der Philosophie der Bonner Sparpolitiker ist die Entwicklung der menschlichen Potentiale unserer Gesellschaft deshalb abhängig von der Fähigkeit des „Standortes Deutschland“, seinen Platz als eine der führenden Wirtschaftsmächte zu verteidigen. Die Gesellschaft definiert sich als Ballast für „ihre“ auf den globalen Märkten agierenden Unternehmen.
Daß in dieser Philosophie etwas nicht stimmt, fiel schon einigen Ökonomen des 19. Jahrhunderts auf. Der Nationalökonom Friedrich List machte sich bereits 1841 über die ökonomische Schule seiner Zeit lustig, welche die „produktive Kraft“ einer Gesellschaft mit der Produktion von Tauschwerten verwechsle: „Wer Schweine erzieht, ist nach ihr ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.“ List wies darauf hin, daß beispielsweise „die Selbstadministration der Gemeinden und Korporationen, die Preßfreiheit, die Assoziationen zu gemeinnützigen Zwecken, den Bürgern wie der Staatsgewalt eine Summe von Energie und Kraft gewähren, die sich schwerlich durch andere Mittel erzeugen läßt“.
In den 70er Jahren unseres Jahrhunderts waren es vor allem feministische Theoretikerinnen, die diesen engen Begriff der Produktivität kritisierten und auf seinen „blinden Fleck“ hinwiesen: die Erziehung der Kinder, die sog. „reproduktive“ Arbeit im Haushalt, die Pflege und Zuwendung zu anderen Menschen, die für die Gesellschaft genauso produktiv sind wie etwa die Arbeit in einer Automobilfabrik.
Im Licht dieses realistischeren Begriffs der „produktiven Kräfte“ der Gesellschaft stellt sich die Frage nach den Ursachen der finanziellen Krise etwas anders. Spiegelt sich in der Krise des Sozialstaates nicht auch eine Krise jener „produktiven Kräfte“ wider, die zugunsten einer rein technischen Produktivität vernachlässigt wurden? Ist sie in Wahrheit das zwangsläufige Resultat einer Politik, die seit Beginn der 80er Jahre die „sozialen“ Bereiche der Gesellschaft zugunsten der Weltmarktsektoren austrocknete?
Ein paar Zahlen geben hier zu denken: Um die neue Chipfabrik von Siemens in Dresden zu bauen, mußte für jeden Arbeitsplatz eine Million DM staatlicher Fördergelder gezahlt werden. Für die Schaffung einiger konkurrenzfähiger Arbeitsplätze in der ostdeutschen Chemieindustrie wurden teilweise noch höhere öffentliche Subventionen pro Arbeitsplatz gezahlt. Mit einer Million DM könnte der Arbeitsplatz einer Erzieherin oder eines Altenpflegers mindestens zwanzig Jahre lang finanziert werden. Seit Beginn der 80er Jahre sinken die Beiträge der weltmarktorientierten Sektoren an den öffentlichen Finanzen stetig ab.
Einiges spricht dafür, daß die gängige Krisenerklärung vom Kopf auf die Füße gestellt werden muß. Es ist nicht die „unproduktive“ Gesellschaft, die die weltmarktorientierten Wirtschaftssektoren zu sehr belastet, sondern umgekehrt: Die weltmarktorientierten Sektoren sind zu einer untragbaren Belastung aller anderen produktiven Kräfte der Gesellschaft geworden.
Wir leben tatsächlich über unsere Verhältnisse, aber nicht, weil wir uns eine leidlich funktionierende Sozialversicherung leisten, sondern weil wir an einem Entwicklungsmodell festhalten, das darauf setzt, im globalen Konkurrenzkampf seinen Platz als eine der führenden Wirtschaftsmächte zu verteidigen. Der internationale Verdrängungswettbewerb ist eine teure Angelegenheit geworden – zu teuer für die Gesellschaft.
Die Eckpunkte einer alternativen Wirtschaftspolitik, die auf einem anderen Verständnis der produktiven Kräfte der Gesellschaft aufbaut, könnten ungefähr so aussehen: Statt „Arbeit zu schaffen“, würde sie versuchen, das Naheliegende zu tun, an der Verbesserung der konkreten Realität unseres Lebens und Zusammenlebens zu arbeiten und die Last dieser Arbeit gerecht zu verteilen. Sie würde versuchen, die gesellschaftliche Organisation der Arbeit wieder an unseren Lebensbedürfnissen zu orientieren und dort anzusetzen, wo soziale Probleme als Folge „ungetaner Arbeit“ entstanden sind.
Statt internationale Konzerne mit milliardenschweren Subventionen zu fördern, würde sie dort, wo es möglich ist, wirtschaftliche Ressourcen in gesellschaftlich sinnvolle Bahnen lenken, etwa durch die gezielte Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen mit sozial- und umweltpolitischen Vorgaben. In den sozialen Bereichen würde sie nicht unbedingt auf staatliches Verwaltungshandeln setzen, sondern auf gesellschaftliche Innovationen, auf soziale Projekte und Initiativen, die die „produktiven Kräfte“ der Gesellschaft in einem umfassenden Sinn wieder neu beleben können. „Sparpolitik“ wäre dann nicht die Austrocknung der „sozialen Bereiche“ zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit des „Standortes Deutschland“, sondern das genaue Gegenteil: eine Stärkung der gesellschaftlichen Autonomie, die Verwandlung des Bürgers vom (kostspieligen) Verwaltungsobjekt zum handelnden Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung. Gabriela Simon
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