Endzeitstimmung an der East-Side

Seit die Wagenburg an der East-Side Gallery von der Polizei als gefährlicher Ort eingestuft worden ist, werden die verbliebenen Bewohner auf eine harte Probe gestellt. Fünf Razzien in sechs Wochen  ■ Von Plutonia Plarre

Morgens um zehn Uhr in der Wagenburg an der East-Side Gallery. In der Rollheimer-Siedlung zwischen Mauer und Spree herrscht Totenstille. Etliche Wohnwagen inmitten der Berge aus Autowracks, kaputten Kühlschränken, Waschmaschinen und undefinierbarem Müll sehen nicht so aus, als seien sie noch bewohnt. Auf der mit Scherben übersäten Hauptstraße, die sich von Süden nach Norden durch das Dorf schlängelt, ist kein Mensch zu sehen. Nur die Hunde balgen sich um einen Knochen.

Aus einem Bauwagen schiebt sich ein Kopf mit einer schwarzen Ledermütze. Es ist der 42jährige Glatze. Der Mann, der eine Schlange unter seiner Mütze spazierenträgt, wohnt seit 1991 in der East-Side. Verschlafen stolpert er ins Freie und verrichtet mit verträumtem Blick auf die Spree in aller Ruhe sein Morgengeschäft. „Ich bin einer der Dorfältesten“, erzählt er, während er den Hosenstall zuknöpft. Glatze gehört zu einer Gruppe von zehn bis zwanzig Leuten, deren Wohnwagen am südlichen Ende der Wagenburg in Richtung Oberbaumbrücke stehen. Im nördlichen Bereich wohnen unter anderem eine Gruppe von Engländern und versprengte Reste von ehemaligen Rollheimern aus Kreuzberg und sonstiger Herren Ländern. Zwischen den Wagenkreisen verlaufen imaginäre Grenzen. Mit einigen will man möglichst nichts zu tun haben, gelegentlich kommt es aber doch zu handfesten Szenen. „Das sind Streßmacher“ heißt es abwehrend, wenn die Bewohner vom Süden von denen im Norden sprechen. „Wenn die voll sind, riskiert man, eine Flasche über den Kopf zu kriegen.“

„Bock“ auf die Presse hat in der Wagenburg schon lange niemand mehr. Nach einem Mord und einem Raubüberfall im März dieses Jahres, der die Wagenburg in die Schlagzeilen brachte, hat die Polizei die East-Side zu einem gefährlichen Ort erklärt und rückt nun in kurzen Abständen zu Durchsuchungen an. In den letzten sechs Wochen habe es fünf Razzien gegeben, hat Glatze gezählt. „Wir sind alle ein bißchen gestreßt und genervt.“

Daß die Wagenburg aus der Innenstadt fort soll, ist im Senat schon lange Konsens. Das Vorhaben scheiterte bislang jedoch am Widerstand der Bezirke. Diese weigern sich hartnäckig, die Schmuddelkinder von der East- Side aufzunehmen. Und das, obwohl eine eigens dafür eingesetzte Arbeitsgruppe unter Federführung der Staatssekretärin in der Sozialverwaltung, Verena Butalikakis (CDU), 25 von 50 Ersatzgrundstücken als Alternativstandort als geeignet befunden hat. Zuletzt war ein ehemaliges Stadtgut in Weißensee im Gespräch. Nachdem auch dieser Bezirk entsetzt abgewinkt hat, wird nun eine Umsiedlung auf die Berliner Stadtgüter in Brandenburg geprüft.

„Was? Nach Brandenburg sollen wir?“ fragen Glatze und seine im fünften Monat schwangere Freundin Manuela* ungläubig. Wo immer die Wagenburg im November auch stehen mag, für Manuela steht fest: „Die Drillinge kommen nicht im Krankenhaus, sondern im Wohnwagen zur Welt.“ Sagt's mit einem breiten Lachen und nimmt einen Schluck Bier. „Wenn es anständige sanitäre Anlagen, fließend Wasser und Einkaufsmöglichkeiten gibt, ist Brandenburg okay“, meint Glatze. Das sieht sein Nachbar, ein ehemaliger Pfarrer, kurz „der Pfaffe“ genannt, anders. „Wir lassen uns hier nicht so einfach abdrängen, in der Innenstadt gibt's genug Ersatzflächen.“

Auch Grufty, der nur noch wenige Zähne im Mund hat, will auf keinen Fall nach Brandenburg. „Da sind die Faschos.“ Ein Problem, das ihn die ganze Zeit umgetrieben hat, hat er inzwischen immerhin gelöst. „Man muß was Schriftliches haben, um bei der Räumung zu beweisen, daß das dein Wagen ist. Sonst schicken dich die Bullen nämlich einfach weg.“ Für Glatze und seine Freunde steht fest, daß sie sich am Tag X auf keinen Fall stur stellen werden. „Ich setze mich in meinen Wagen und bleibe da drin. Dann weiß ich wenigstens, wo der landet“, sagt Glatze. Ein klein wenig hoffen die Leute aus dem Süden der East-Side aber immer noch, daß sie an dem alten Fleckchen an der Spree bleiben können. „Uns will doch sonst keiner. Wir würden auch zusammen mit der BSR aufräumen.“

Ein ohrenbetäubender Lärm durchbricht die Stille. Die Bewohner im Norden sind erwacht. Mit hoher Geschwindigkeit heizt ein Motorrad an Glatzes Bauwagen vorbei. Auf dem Bock sitzt ein Mann mit wehendem schwarzem Irokesenschnitt. Nur wenig fehlte, dann hätte er Manuelas kleinen Hund erwischt. Die beleibte Frau wird zur Furie, als sie den Hund wimmern hört. „Ich bring' dich um!“ brüllt sie dem Motorradfahrer entgegen, als der im selben Tempo zurückkommt. Der Mann rast ungerührt weiter.

* Name geändert